Krasse Provokationen

Sollten falsche Meinungen verboten werden? In Deutschland ist die Leugnung des Holocaust eine Straftat. Das Risiko faschistischer Gewalt kann damit kaum verringert werden. Und die Meinungsfreiheit ist der Verlierer  ■ Von Ronald Dworkin

Im letzten Jahr hat sich in Deutschland ein wichtiges Drama um die freie Meinungsäußerung abgespielt. 1991 organisierte Günter Deckert, führender Kopf der ultrarechten NPD, eine Veranstaltung, bei der Fred Leuchter (ein „Experte“, der Gaskammern für US-Gefängnisse entworfen hat) seine „Forschungsergebnisse“ vorstellte, die den Schluß nahelegten, in Auschwitz hätten keine Vergasungen stattgefunden. Obwohl Leuchters Beweisführung schon weltweit publiziert worden war, wurde Deckert als Veranstalter des Vortrags strafrechtlich verfolgt und wegen Volksverhetzung verurteilt.

Im März 1994 hob der Bundesgerichtshof das Urteil mit der Begründung auf, daß die bloße Leugnung des Holocaust nicht automatisch den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllt, und es ordnete eine neue Verhandlung an, um herauszufinden, ob der Angeklagte „mit Nazi-Überzeugungen sympathisiert“ und sich „der Beschimpfung und Verunglimpfung der Toten“ schuldig gemacht habe.

Deckert wurde erneut vor Gericht gestellt und verurteilt. Drei Richter urteilten, er sympathisiere mit Nazi-Überzeugungen und verunglimpfe das Andenken der Toten. Aber sie gaben ihm nur ein Jahr auf Bewährung und eine milde Geldbuße; sie erklärten, sein Vergehen bestehe in der Äußerung einer Meinung und fügten unglaublicherweise hinzu, daß er ein guter Familienvater sei, daß seine Überzeugungen „von Herzen“ kämen und daß er nur versuche, den deutschen Widerstand gegen jüdische Forderungen zu stärken. Zwei der Richter wurden danach wegen „langwieriger Krankheiten“ ihrer Ämter enthoben, der einzig möglichen Begründung für dieses Vorgehen; und obwohl sie in aller Stille in die Gerichte zurückgekehrt sind, sind sie weiterhin der Kritik von Kollegen ausgesetzt, von denen einige sich weigern, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Letzten Dezember hob der Bundesgerichtshof Deckerts milde Strafe auf und verfügte eine weitere Verhandlung.

Die Öffentlichkeit geriet über diese Vorgänge in Erregung, der Gesetzgeber reagierte. Im April 1994 erklärte das Bundesverfassungsgericht, daß die Leugnung des Holocaust nicht durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt wird, und verhängte ein offizielles Verbot über eine rechte Konferenz, auf der David Irving, der kontroverse britische Historiker, seine Ansichten vorstellen sollte. Zu Beginn dieses Jahres verabschiedete der deutsche Bundestag ein neues Gesetz, das die Leugnung des Holocaust zur Straftat erklärt, die mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden kann, egal ob der Leugner an seine Äußerungen glaubt oder nicht.

Das neue Gesetz ist strikt angewendet worden. Im März hat die deutsche Polizei die Zentrale einer rechtsextremen Zeitung durchsucht und beschlagnahmte Exemplare einer Ausgabe, in der ein dänisches Buch besprochen wird, das den Holocaust leugnet. Das Gesetz hat auch Interpretationsprobleme geschaffen. Im Februar entschied ein Hamburger Gericht, daß jemand, der auf dem Anrufbeantworter einer Institution die Botschaft hinterläßt, Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ habe einen Oscar bekommen, weil er den „Auschwitz-Mythos“ fortschreibe, sich nicht im Sinne des Gesetzes strafbar mache. Diese Entscheidung, die für neue Aufregung sorgte, ist nun in Berufung, aber wenn sie aufgehoben wird, werden Neonazis zweifelsohne das Gesetz mit einer Reihe anderer Äußerungen testen, bis sie diejenige finden, die ihm standhält und zum neuen Code werden kann. Sie freuen sich über Verhandlungen, die sich mit Sprachregelungen beschäftigen, weil sie ein wunderbares Forum für ihre Ansichten bieten – die Münchener Verhandlung gegen Ewald Althans, einen weiteren Leugner des Holocaust, brachte die Präsentation stundenlanger Videos von Hitlerreden und anderes Neonazi-Propagandamaterials mit sich.

Die deutsche Verfassung garantiert freie Meinungsäußerung. Was rechtfertigt diese Ausnahme? Unwahrscheinlich, daß das Risiko faschistischer Gewalt in Deutschland substantiell zunehmen würde, wenn man Fanatikern erlaubte, den Holocaust zu leugnen. Grausame antisemitische Verbrechen werden hier in der Tat begangen, ebenso wie gleichermaßen grausame Verbrechen gegen Einwanderer, und rechtsgerichtete Gruppen sind ohne Zweifel für vieles davon verantwortlich. Aber diese Gruppen brauchen nicht zu leugnen, daß Hitler Juden abgeschlachtet hat, um Hitler-Verehrer zu ermutigen, selber Juden anzugreifen. Neonazis haben Hunderte von Lügen und Verdrehungen erfunden, um Deutsche aufzustacheln, die wütend, haßerfüllt und vorurteilsbeladen sind. Warum sollte diese eine herausgepickt werden, um besonders schwer zensiert und bestraft zu werden?

Die wahre Antwort ist klar genug: sie wurde in den Reaktionen der jüdischen Repräsentanten auf die von mir beschriebenen Gesetzesänderungen deutlich gemacht, und in der Meinung des Verfassungsgerichts.

Zu leugnen, daß der Holocaust stattgefunden hat, ist eine monströse Verunglimpfung des Andenkens aller Juden und der anderen, die in ihm vernichtet worden sind. Das ist eindeutig richtig; es wäre entsetzlich nicht nur für Juden, auch für Deutschland und die Menschheit, wenn die zynische „Auschwitz-Lüge“ jemals Glaubwürdigkeit erlangen würde. Sie sollte öffentlich widerlegt werden, gründlich und voller Verachtung, wo immer sie erscheint.

Aber Zensur ist etwas anderes. Wir dürfen nicht das Prinzip unterstützen, daß eine Meinung verboten werden kann, wenn diejenigen, die an der Macht sind, von ihrer Falschheit überzeugt sind und davon, daß eine Gruppe tief und verständlicherweise von ihrer Veröffentlichung verletzt würde. Die „Creationisten“, die Darwin in den zwanziger Jahren von den öffentlichen Schulen im Staate Tennessee verbannten, fühlten sich in ihrer Auffassung der biologischen Geschichte genauso sicher wie wir uns in unserer Auffassung der deutschen Geschichte, und auch sie handelten, um Menschen zu schützen, die sich im Kern ihres Wesens von der skandalösen neuen Lehre erniedrigt fühlten.

Die muslimischen Fundamentalisten, die Salman Rushdie verbannten, waren überzeugt, daß er unrecht hatte und auch sie handelten, um Leute zu schützen, die schwer unter dem gelitten hatten, was sie für eine wütende Verunglimpfung hielten. Jedes Blasphemiegesetz, jede Bücherverbrennung, jede Hexenjagd der Rechten oder der Linken ist auf derselben Grundlage verteidigt worden: dem Schutz fundamentaler Werte vor ihrer Entweihung. Man hüte sich vor Prinzipien, die vertrauenswürdig nur so lange sind, wie sie in Händen von Leuten liegen, die wie man selber denken. Es ist verführerisch zu sagen, daß Deutschlands Lage eine besondere ist, daß der Holocaust die historischen Schemata sprengt und Ausnahmen in jeder Hinsicht erfordert, auch in Sachen Meinungsfreiheit. Aber viele andere Gruppen halten ihre Lage ebenfalls für besonders, und einige haben guten Grund dazu. Es gibt in der US-Geschichte nichts dem Holocaust vergleichbares, aber die Sklaverei ist schlimm genug.

Schwarze finden Beweisführungen wie die aus Herrnsteins und Murrays Buch „The Bell Curve“ extrem anstößig, in dem nahegelegt wird, daß die Rassen sich genetisch hinsichtlich der Intelligenz unterscheiden, und in manchen amerikanischen Universitäten werden Professoren, die eine historische Sichtweise lehren, die von Minderheiten als beleidigend empfunden wird, geächtet und diszipliniert. Wir würden nicht haben wollen, daß Leute, die an der Macht sind und diese Biologie oder diese Geschichtsauffassung eindeutig falsch finden, das Recht haben, sie zu verbieten. Der Wunsch nach Zensur wurzelt oft in einem Groll, und Leute, die das Gefühl haben, daß die Geschichte ungerecht zu ihnen war, sind gewöhnlich nicht geneigt sich damit abzufinden, daß ihre Position auch keine besondere ist.

Ich weiß, wie stark die Argumente für Zensur heute in Deutschland sind. Anständige Leute werden ungeduldig mit abstrakten Prinzipien, wenn sie Rowdys mit Pseudo-Hakenkreuzen sehen, die behaupten, daß der ungeheuerlichste, kaltblütigste Völkermord eine Erfindung seiner Opfer sei. Die Rowdys erinnern uns an etwas, das wir oft vergessen: den hohen, manchmal fast unerträglichen Preis der Freiheit. Aber Freiheit ist wichtig genug, daß sie sogar Opfer fordern kann, die wirklich weh tun. Leute, die sie lieben, sollten ihren Gegnern, wie Deckert und seinen widerlichen Kollegen, nicht entgegenkommen, auch angesichts der krassen Provokationen, die sie sich ausdenken, um uns zu reizen.

Der Autor lehrt als Professor für Rechtswissenschaft an der New York University und der Oxford University.

In deutscher Übersetzung liegen zwei von Ronald Dworkins Büchern vor: „Bürgerrechte ernst genommen“ (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1990, 592 Seiten, 28 DM) und „Die Grenzen des Lebens. Abtreibung, Euthanasie und persönliche Freiheit“ (Rowohlt Verlag 1994, 416 Seiten, gebunden, 48 DM)

Aus dem Englischen von Jörg Lau