Was ist Notwehr?

■ Nach rassistischer Bedrohung und Schlägen auf dem U-Bahnhof zugestochen: Athiopier wegen Körperverletzung vor Gericht

„Du schmutziger Nigger, was willst du denn hier! Geh' nach Hause!“, soll Olaf S. im Oktober 1992 den aus Äthopien stammenden Mulugeta D. beschimpft haben. Dann habe er ihn aus der U- Bahn gestoßen, berichtete D. gestern vor Gericht. Doch nicht der 43jährige Berufskraftfahrer S. ist angeklagt, sondern der Äthiopier steht wegen schwerer Körperverletzung vor Gericht.

Auf dem U-Bahnhof Kurt- Schumacher-Platz habe ihn der rassistische Rüpel mit den Worten „Verpiß dich, Kanake! Ich bring' dich um, Scheißnigger!“, mit einer Plastiktüte, in der sich eine Schnapsflasche befand, derart geschlagen, daß Mulugeta D. um sein Leben fürchtete. „Der Mann war so kräftig, und ich hatte das Gefühl, er wolle mich umbringen.“ Nur deshalb habe er zum Messer gegriffen und dabei seinen Peiniger mit je einem Stich in den Hals und einem in die Hüfte niedergestochen. Ein klarer Fall von Notwehr? Nicht für die Staatsanwaltschaft. Die wirft dem 41jährigen Schwarzafrikaner vor, weit über die Grenzen der Notwehr hinausgegangen zu sein. Obwohl Mulugeta D. gestern darauf hinwies, daß 1992 besonders viele Ausländer durch rassistische Übergriffe ums Leben gekommen sind, zweifelte auch der Richter die Notwehr an.

„Wie lange haben sie das Messer eigentlich schon?“ fragte der Richter unvermittelt – und ob es sich um das gleiche Springmesser handele, mit dem er damals auf einen Beamten des Sozialamtes eingestochen habe. Verblüffung unter den Zuschauern. Nein, das sei ein anderes Messer gewesen, erklärte der Angeklagte und gab dann seine Version des damaligen Geschehens zum besten: „Das war ein politischer Vorfall! Ich wollte hierbleiben, weil ich ein politisch Verfolgter bin. Der Mann vom Sozialamt hatte das abgelehnt!“, behauptete Mulugeta D. Das seinerzeit mit dem Fall betraute Schöffengericht sah indes kaum politische Motive im damaligen Tun des Äthiopiers.

Laut Urteil vom Juli 1991 hatte Mulugeta D. damals betrunken das Sozialamt aufgesucht und von dem für ihn zuständigen Sozialamtssachbearbeiter Geld für ein Paar Schuhe verlangt. Als dieser ihm den Wunsch verweigerte und ihn auf den nächsten Termin vertröstete, stach er ihn mit dem Springmesser von hinten nieder. Nur der Umstand, daß Mulugeta D. zur Tatzeit sturzbetrunken war, ließ ihn mit einem milden Urteil von sechs Monaten wegen Körperverletzung davonkommen.

Sollte das Gericht erneut auf Körperverletzung entscheiden, müßte der einschlägig Vorbestrafte mit einem härteren Urteil rechnen. Doch bislang haben die Zeugen des Vorfalls auf dem U- Bahnhof Kurt-Schumacher-Platz die Version von Mulugeta D. im wesentlichen bestätigt. Der Termin wird am 20. Juni fortgesetzt. Peter Lerch