Der Spion, der an den Rechtsstaat kam

■ Das Bundesverfassungsgericht hält eine Strafverfolgung der meisten früheren DDR-Spione für verfassungswidrig / Kein Pardon gibt es jedoch für Westdeutsche, die für die DDR spitzelten

Berlin (dpa/AFP/taz) – Die Karlsruher Verfassungsrichter haben einen Gordischen Knoten gelöst. Sie entwirrten das Geflecht juristischer Einschätzungen früherer Spionage für die DDR in einem dreigeteilten Urteil: DDR-BürgerInnen, die vor der deutschen Wiedervereinigung für den DDR-Geheimdienst ausschließlich vom Boden der DDR aus gegen die Bundesrepublik spioniert haben, dürfen wegen ihrer Tätigkeit nicht weiter strafrechtlich verfolgt werden. Für Bürger der alten Bundesrepublik, die Spionage für die DDR getrieben haben, gibt es kein Pardon, es gilt der volle Strafanspruch.

Bleibt die Gruppe der DDR-BürgerInnen, die auf dem Gebiet der Bundesrepublik als „Kundschafter“ tätig waren. Bei diesen gilt es besondere Milderungsgründe zu berücksichtigen, die im Ergebnis auch zur Verfahrenseinstellung führen können.

Das Bundesverfassungsgericht hatte über drei Verfassungsbeschwerden verurteilter Spione sowie über die Vorlage des Berliner Kammergerichts im Falle Werner Großmanns, dem Nachfolger von Markus Wolf als Chef der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), zu entscheiden. Das Berliner Gericht wollte geklärt wissen, ob eine Verfolgung der DDR-Spionage nicht prinzipiell gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz der Verfassung verstößt.

Die Entscheidung des zweiten Senats des Verfassungsgerichts fiel knapper aus als erwartet. Drei der acht RichterInnen gaben ein abweichendes Votum ab. Sie warfen den KollegInnen vor, dem Gesetzgeber in den Rücken zu fallen, weil dieser auf eine Amnestie bisher ausdrücklich verzichtet habe.

Generalbundesanwalt Kay Nehm begrüßte gestern das Urteil als Beitrag zur rechtlichen Klarheit. Der ehemalige DDR-Spionagechef Markus Wolf, vom Oberlandesgericht wegen Agententätigkeit zu einer noch nicht rechtskräftigen sechsjährigen Haftstrafe verurteilt, wertete die Entscheidung als „ermutigendes Zeichen“. Das Urteil beende für einen Teil der von 6.000 Verfahren Verfolgten eine „lange Zeit der Ungewißheit, Diffamierung und Strafverfolgung“. Das Düsseldorfer Urteil gegen „Mischa“ Wolf dürfte nunmehr aufgehoben werden.

Lob und Tadel hielten sich auf der politischen Bühne die Waage: Mit ihrer Entscheidung hätten die Richter „die Bundesrepublik Deutschland und den Zwangsstaat DDR moralisch auf eine Stufe gestellt“, schimpfte in München CSU-Generalsekretär Bernd Protzner. Der CDU- Rechtspolitiker Rupert Scholz dagegen lobte, das Urteil berücksichtige die Lage nach der Wiedervereinigung. Herta Däubler-Gmelin (SPD) begrüßte den Richterspruch als „wichtigen Beitrag zur inneren Sicherheit und zum Rechtsfrieden“. Gerald Häfner von Bündnis 90/Die Grünen sprach von einem „rechtlich nachvollziehbaren und konsequenten Richterspruch“, der bei den Opfern der SED aber Enttäuschung und Verbitterung hervorrufen könne. Nach Ansicht des brandenburgischen SPD-Bundestagsabgeordneten Stephan Hilsberg hat sich das Gericht deutlich über den politischen Willen der letzten frei gewählten DDR-Volkskammer und über den Einigungsvertrag hinweggesetzt. Dort sei eine Amnestie für hauptamtliche Mitarbeiter der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) „aus guten und wichtigen Gründen“ abgelehnt worden. Voll des Lobes war dagegen die Spitze der PDS: Parteichef Lothar Bisky nannte das Urteil einen „Sieg der politischen Vernunft“. Und der Vorsitzende der PDS-Gruppe im Bundestag, Gregor Gysi, plädierte für eine generelle Amnestie für Spionagetätigkeit zwischen beiden deutschen Staaten.

Zurückhaltend kommentierte das Bundesjustizministerium: Die Konsequenzen für bereits abgeschlossene oder noch anhängige Verfahren müßten einer „eingehenden Prüfung“ unterzogen werden.

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