Intellektuelle Schwerstarbeit

Antje Vollmer, der „heiße Frieden“, der Vater aller Dinge und das Geheimnis des Mannschaftssports  ■ Von Götz Aly

Wer, wenn nicht Antje Vollmer, hätte als erste Grüne zur Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages gewählt werden können? Nur sie hatte jenes Maß an öffentlicher Sympathie und fraktionsübergreifendem Vertrauen erlangt, das eine so ungewöhnliche Kampfkandidatur aussichtsreich machte. Doch seitdem sie das Staatsamt innehat, bröckelt ihr Nimbus.

Ihr neulich erschienenes Buch „Heißer Frieden“ wird ihr nicht aufhelfen. Es ist mißglückt. Die gelernte Theologin scheiterte mit dem Versuch, ein Politiker(innen)buch zu schreiben, das so ganz anders – eben „grundlegend“ – sein sollte als die entsprechenden Hochglanzproduktionen von Lafontaine, Schäuble, Fischer oder Renate Schmidt.

Vollmer versinkt im Tiefsinn, wo das Publikum tagespolitische Geistesgegenwart verlangen muß; sie behilft sich mit expressionistischen Stoßseufzern, wo Plausibilität gefragt wäre. Etwa so: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge, sagte Heraklit den Griechen. Für Mao Tse-tung ist das Chaos die große schöpferische Unordnung unter dem Himmel. Gewalt ist nichts als Lebendigsein, sagte Sorel. Norbert Elias kennt den Stoff, aus dem der ,Prozeß der Zivilisation‘ sich bildet, die große schöpferische Freude des frühen Mittelalters am kriegerischen Quälen und Töten anderer.“

Mag sein oder auch nicht, jedenfalls landen Leser und Leserin nach einer Kurzbesichtigung der Höllenstürze des „unvergleichlichen“ Hieronymus Bosch und einem Blick zum Deckenfresco der Sixtinischen Kapelle unversehens in Bhaktapur/Nepal – am Bett des dreizehnjährigen Sohnes der Autorin.

Der Junge weint. Völlig zu Recht. Warum hat sie ihn nur dorthin geschleppt? Eine Fahrradtour durch Meck-Pomm hätte beiden besser getan. Aber wo sie sich eher selbstkritisch zur Schnapsidee ihres Gewalttrips äußern oder wenigstens schweigen sollte, da plustert sich die Autorin auf – so „waren wir während der Herbstferien (!) zum Dassain-Fest nach Nepal gefahren“ (sprich: gedüst) – und fragt gewichtig: „Was hatte ihn so erschreckt?“ Kein Gedanke darüber, ob ausgerechnet ihr Filius am banalen Jetlag, an Überforderung gelitten haben könnte – nein: „Offenbar hatte er instinktiv etwas von den Gewaltursprüngen“ des Dassain-Fests „erfaßt“, in diesen „mondlosen Nächten ..., angefüllt mit dumpfen, unheimlichen Trommelklängen, die mit wachsender Intensität durch die Gassen hallen.“

Über Kitsch läßt sich streiten, nicht aber darüber, daß Kinder rechtzeitig ins Bett gehören und Eltern spätestens dann ihre eigenen Interessen zurückstellen sollten. Das ist leicht gesagt und heutzutage oft schwer getan. Ich weiß. Aber Vollmer könnte doch genau diesem Problem nachgehen, das nicht nur ihres ist, sondern das von Millionen anderen deutschen (Teil-)Familien. Vielleicht würde ihr dann dämmern, wo die durchaus neuen Quellen jugendlicher Desorientierung und möglicher späterer Gewalttätigkeit sprudeln.

Doch das Naheliegende ist die Sache unserer Vizepräsidentin nicht. „Methodisch folgt dies Buch“, wie sie auf Seite 1 wissen läßt, „dem selbstgegebenen Rat, nicht zuviel kostbare Zeit mit der soziologischen oder sozialtherapeutischen Ursachenforschung zu verlieren.“ Statt dessen erklärt sie uns unter ausgiebigem Gebrauch der mittlerweile zum Überraschungsei für alles und jedes degradierten Hannah Arendt (nur noch im Original lesen!), worin der Unterschied zwischen Gewalt und Macht besteht, wie sehr legitime Macht, das darauf gegründete Gewaltmonopol des Staates und die berühmten Sekundärtugenden jedes einzelnen das „Geheimnis der Zivilisation“ bedingen. Wer das noch nicht wußte, sollte das Werk unbedingt lesen. Auch wer die platteste Bonner Medienschelte lieber etwas aufgedampft inhaliert oder den geschichtlichen Nutzen des Brandtschen Konzepts „Wandel durch Annäherung“ noch nicht deklinieren konnte, kommt auf seine Kosten.

Für den Rezensenten ergab sich allerdings erst auf Seite 192f. ein erfreulicher Erkenntnisgewinn. Dort nämlich lernte er, daß „der Mannschaftssport unerreicht“ sei „in seiner Fähigkeit, Aggressionen zu bündeln und gleichzeitig zu verarbeiten“. Gut also, wenn Monika sich oder ich mich am Sonntag früh aus dem Bett quäle. Dann nämlich pflegt unsere jüngste Tochter als eines von elf „B-Mädchen“ – Motto: „Sydney hat die Olympiade, aber Berlin hat den VfB Lichterfelde“ – gegen die Sportskameradinnen von Motor Eberswalde oder Turbine Potsdam anzutreten. Dachten wir bislang, mit unserem Schlafopfer genügten wir einfach den elterlichen Selbstverständlichkeiten, so lehrte uns die Lektüre von „Heißer Frieden“ mehr. In der besten aller möglichen Formen dienen wir dem Fortschritt der Menschheit: „Der Fußballsport unterbindet Anarchie und Unbeherrschtheit, er belohnt Einsatz und Spielfreude, Technik und Körpereinsatz. Er war multikulturell, bevor es den Begriff überhaupt gab. Er ist sogar demokratisch, er gibt jedem Ballgenie eine Chance, niemand braucht ein teures Pferd ... König Fußball ist dabei wirklich ein Meister an zivilen Qualitäten.“

An einer Stelle hätte das Buch interessant werden können: „Nicht nur die Gewalt“, so steht da, „auch die Egalität gehört zu den Ursachen für die Krisen der Moderne.“ Dem richtigen, aber hinsichtlich der Konsequenzen schwierigen Satz folgt kein einziger weiterer Gedanke.

Nur implizit wird auf den letzten Seiten deutlich, welchen Weg Antje Vollmer anvisiert. Es geht ihr um die Sedierung einer angeblich „lynchbereiten Masse“ durch „die Intellektuellen“. Sie sollen sich demnach in „der Rolle als kulturelle Bombenentschärfer“ betätigen, um so „den Heißen Frieden abzukühlen“. Täten sie das, dann leisteten sie „Gefahrenabwehr und intellektuelle Schwerstarbeit“. Nichts gegen gute Sprengstoffmeister und Anästhesisten, aber es bleibt unklar, woher die Autorin ihren im Kern wenig demokratischen Optimismus bezieht. Sie betreibt eine versteckte Wiederbelebung des gescheiterten und – gelinde gesagt – blutbefleckten Avantgarde-Konzepts. Sie gründelt in 5.000 Jahren Religions- und Ereignisgeschichte, um uns am Ende mit dieser durch und durch elitären „Hoffnung“ abzuspeisen – „für das unruhige Jahrtausend, auf das Europa zugeht“.

Die Bürger und Bürgerinnen der Bundesrepublik benötigen aber weder therapeutisches Handling noch staatsbürgerliche Förderstunden, vielmehr wollen sie diejenigen Ziele und demokratischen Strategien kennenlernen und sich – möglicherweise – zu eigen machen, denen sich die Politikerin und derzeitige Abgeordnete Vollmer für die nächsten zehn Jahre verpflichtet weiß. Dann wird sie ohnehin zur Kaste jener „Gerontokraten“ gehören, denen sie „Phantasie-Blockade“, „konservative Stagnation“ und erhebliche Mitverantwortung für den steigenden „Chaospegel“ zuschreibt.

Mit Verlaub: Wie alt war die Autorin, als sie im Schoß der maoistischen KPD an den Umsturz glaubte? Wie alt war sie, als sie noch 1978 in einer unsäglichen neostalinistischen Kaderschrift meinte: „Weder war die Sozialdemokratie [im Dezember 1918, d. Red.] als der derzeitige Hauptfeind der Revolution von den breiten Massen klar erkannt, noch waren sie bewaffnet. Vor allem aber fehlte es ihnen an dem starken revolutionären Zentrum, das die Aktionen der Massen anleiten, organisieren und weitertreiben konnte; es fehlte ihnen eine kommunistische Partei.“ Wie alt war die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, als Otto Schily sie 1985 im Spiegel-Streitgespräch fragte, ob sie einen Antrag „Die Grünen bekennen sich zum Gewaltmonopol des Staates“ unterstützen würde, und sie pampig dagegenhielt: „Mir paßt diese Fragerei nicht. Nein, so unterstütze ich ihn nicht.“

Auch Antje Vollmer hat vieles erst mit den Jahren begriffen. Das verdient Respekt. „Der Realpolitiker ist oft nur ein bekehrter Fundamentalist“, schreibt sie und drückt sich um jede Andeutung über ihre eigene, recht späte Bekehrung. Vielleicht auch deshalb, weil sie zumindest hinsichtlich der Avantgarde-Vergötzung erfolglos blieb.

In schier jedem Kapitel bürstet Vollmer ihre windungsreiche – und darum durchaus interessante – Biographie zur Tugendgeraden glatt: Wenn seinerzeit Zehntausende junge Deutsche „USA- SA-SS“ skandierten, zudem die chinesische Kulturrevolution verehrten und damit das westliche Zivilisationsmodell massiv in Frage stellten, dann taten das „diese Studenten“. Die Autorin war, so scheint es, nicht dabei. Wenn sie aber von der emanzipatorisch- sympathischen Seite derselben Revolte berichtet, dann erweckt sie den Eindruck, als wandle sie ganz persönlich „auf den Feldern von Woodstock“, dann rechnet sie sich umstandslos zu jenen „erprobten Deserteuren“, die (seit dem 15. August 1969) „mit keiner Feinderklärung mehr zu dämonisieren waren ...“

Antje Vollmer erzählt nicht Geschichte, sie gebraucht sie als Medium der Selbststilisierung. Es ist nicht allein der hohe Ton vom besseren Menschen, der ihr Buch unerträglich macht – es sind auch die falschen Unter- und Obertöne.

Antje Vollmer: „Heißer Frieden. Über Gewalt, Macht und das Geheimnis der Zivilisation“, Kiepenheuer & Witsch: Köln 1995, 208 Seiten, Leinen, 34 Mark