Die Spitzel sind wohlauf

Halle im dritten Jahr nach der Veröffentlichung der Stasi-Listen: Eine Stadt kennt ihre Inoffiziellen Mitarbeiter, und nichts ist passiert  ■ Von Jens Schmidt

Die Haare sind dünner geworden und haben mehr Silberfäden. Zugenommen hat er, und das Gesicht wirkt aufgeschwemmt. „So ein Mist“, schimpft Halles Kunstmäzen Achim Wenke, „jedesmal ist das Gartentor zu. Das schreckt doch die Kunden ab!“ Für Wenke, gerade 52 geworden, geht es stets ums Geschäft. So wie er in seiner Galerie „5ünf Sinne“ Kunst verkauft – trotz des vom Hausbesitzer ständig verschlossenen Gartentors – so verkauft er auch sich. Und das nicht schlecht. Es macht – zugegeben – Spaß, ihm zuzuhören. Wenke redet viel und über alles, nur nicht über sein anderes Leben als „Hildebrandt“. Das flog im Juni 1992 auf.

Anonym und säuberlich verpackt in braune Umschläge wurden an einem Freitag mit der Post jeweils 112 A4-Seiten an Ministerien, Medien und Kommunalpolitiker in Halle verschickt. 5.000 Namen und Personenkennzahlen, Decknamen und Einsatzrichtungen – die Inoffiziellen Mitarbeiter der Bezirksverwaltung Halle der Staatssicherheit waren aufgeführt. Von einer „akribischen Leistung, mitnichten aber einem Ruhmesblatt für die Verfasser“ sprach Joachim Gauck. Von einem Skandal schrieben die Medien. Von einer Chance wollten Bürgerrechtler wissen.

Das Neue Forum legte die Listen in seinem Büro aus und führt seitdem gegen eine Handvoll Betroffener Prozesse – inzwischen vor dem Bundesgerichtshof. Und die große Mehrzahl der Hallenser? „Ich kann es nicht mehr hören, daß ständig diese Unterscheidung in IM und Nicht-IM unternommen wird. Was besagt die denn?“, so hat ein Lokalredakteur diese Frage für sich beantwortet – und das wohl repräsentativ.Halle 1995: Drei Jahre nach den Stasi-Enthüllungen sind Decknamen und Verpflichtungserklärungen nur noch ein Fall für die Gerichte.

Die einstige Chemiearbeiterstadt im Süden Sachsen-Anhalts mit rund 300.000 Einwohnern wirkt weiter grau. Die ersten Häuser sind saniert, an den Wänden finden sich mehr Sprüche gegen links und rechts, gegen Westdeutsche und Ausländer als gegen „rote Socken“. Die PDS als stärkste Fraktion im Stadtparlament stellt einen Dezernenten, den für Kultur und Bildung. Früher war er Uni-Lehrer für Marxismus/Leninismus.

Galerist Wenke wohnt in einer Villengegend, die mal zu den guten Adressen in der Stadt zählen wird. Auf Unterlassung des in den Listen erhobenen Vorwurfs, IM gewesen zu sein, hat er vor drei Jahren jedenfalls nicht geklagt. Der Mann von Seite 106 der Liste wußte, was er heute schmunzelnd wiederholt: „Die Zeit heilt alle Wunden.“ Und außerdem, tönt der Künstlerförderer, Bildbandherausgeber und Auktionator in seinem Ausstellungsraum, „ans Aufhören, ans Zurückziehen habe ich auch damals nicht gedacht.“

Als die 5.000 Namen publik gemacht wurden, ja, da hat auch Wenke Freunde verloren. Nicht viele, die engen hätten ihn ja verstanden und um seine Kontakte gewußt. Es gab aber auch Leute, die ihn plötzlich gesiezt haben. „Ein Freund sagte mir: Jetzt hast du auch deinen Karriereknick.“ Nichts war. Achim Wenke hat seine Galerie geführt, anstatt Gazetten zu verklagen, er hat Kunst veräußert und Straßenfeste organisiert, Lesungen veranstaltet und Kammerkonzerte zu Gehör gebracht. Er hat seine Vergangenheit hinter viel Betriebsamkeit verschwinden lassen.

Wie gesagt, Wenke ist Kunsthändler und kann sich ausdrücken. Es gibt Leute, die machen einfach ihre Arbeit. Helmut Pfautsch zum Beispiel, vor 1989 der einzige und begehrte Stempelmacher Halles. Pfautsch, genauso alt wie Wenke, war einer, der Kunden wegschicken konnte. Der Termine vergab, weil er ein Handwerk beherrschte, das wegen seiner Außergewöhnlichkeit mißtrauisch beobachtet wurde. „Unfaßbar ist das für mich alles!“ machte er 1992 seinem Ärger über die Liste Luft. „Mein Name ist durch ehrliche und korrekte Handarbeit bekannt.“

Gutachten, nichts als Gutachten habe er gefertigt, wenn es um Fälschungen und Straftaten mit Stempeln ging. Helmut Pfautsch hat den Vorwurf, auftragsgemäß an letzteren beteiligt gewesen zu sein, schadlos überstanden: „Das Thema ist erledigt.“ Sein Geschäft, inzwischen in einer kleinen Gasse direkt am repräsentativen Markt gelegen, läuft gut. Biedere Bierkrüge gibt es und streng limitierte Zinnteller, Türschilder und – natürlich Stempel. Das Thema Stasi ist vergessen. Leistung lohnt sich wieder.

Das hat auch Stephan Böger, 39, erkannt. Fünfzehn Fußminuten vom Stadtkern entfernt führt IM „Hans-Joachim“ sein Geschäft. Den ersten Schock, den hatte er schnell überwunden. „Na ja“, erinnert sich der für seine gediegene Altstadt-Weinhandlung bekannte Mann, „der Zeitungsartikel über mich war im großen und ganzen fair.“ Böger hat gelernt. Er hat das Geschäft genauso durchschaut, wie er selbst durchschaut wurde. „Irgendwo war's ja auch Werbung. Und es sind auch nicht viele, die den Kontakt zu mir abgebrochen haben.“ So hat Böger erst recht die Ärmel hochgekrempelt.

Der Renner des 92er Jahrgangs war sein „Stasi-Listen-Jahrgangssekt“: Mehr als 1.000 Flaschen – „Rotkäppchen“-Sekt – versehen mit einem Ausriß aus den IM-Listen, gingen damals über den Ladentisch in der Gosenstraße. Ein ideales Geschenk in jenen Tagen. „So viele Flaschen hätte ich 1992 unter normalen Umständen nie verkauft.“ Den Tip, aus dem Vorwurf Kapital zu schlagen, hatte ihm ein „befreundeter Wessi“ gegeben. Für Böger ein schöner Beweis, daß die Mauer in den Köpfen mitunter so undurchlässig nicht sei.

Für Böger ist der Fall, wenn es den überhaupt gegeben hat, vergessen. Für Anwalt Hans-Jürgen Müggenborg nicht. Ein Mann in den Dreißigern. Designerbrille, Maßanzug, Kunst im Büro und Mitglied einer Sozietät. Gegenüber vom Justizgebäude betreibt er seine Kanzlei. In allen wichtigen Prozessen um Hallenser IMs war er der Verteidiger. „Das lag wohl daran“, resümiert er heute, „daß nach den ersten einstweiligen Verfügungen die Kette der Mandanten nicht mehr abriß.“

Weil das Neue Forum einem Mißbrauch der Listen vorgreifen wollte, legte es sie in seinen Räumen aus. Hunderte kamen. Es war die Zeit, als jeder wissen wollte: Wer war es? „Na klar“, erinnert sich eine Hallenserin, die heute nur im Rathaus ist, um ein Antragsformular zu holen, „habe ich mich damals auch angestellt.“ Aber wie das so sei, winkt die Vorruheständlerin ab, heute sei ihr das alles egal. Man solle sich nur umschauen, was jetzt so laufe. Sagt's, schnappt ihr Formular und verläßt das Rathaus, das seit Sommer 1992 deutlich weniger IMs in seinen Diensten hat.

Genau dieses Desinteresse der Öffentlichkeit macht Müggenborg geltend, wenn er im Namen seiner Mandanten den Verfassern der Stasi-Listen nachträglich das Recht abspricht, IMs zu outen. Vor allem aber meint der Anwalt, daß mit der Nennung Persönlichkeitsrechte verletzt würden. Dem stehe, argumentieren die Bürgerrechtler, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegenüber. Man dürfe nicht dem Staat allein den Umgang mit brisanten Daten überlassen.

Müggenborgs erster Fall war sein erfolgreichster: Gabriele H. Gleich hinter der Klausbrücke, in bester Lage, betreibt sie ein kleines Café. Im Angebot sind Hefekuchen, Holländerschnitten und Wiener Würstchen. Die Frau galt als Musterfall und ist wohl deshalb zu unbeabsichtigtem Ruhm gelangt.

Gabriele H., laut Liste IMK „Gerd Seifert“, war eine der ersten, die per einstweiliger Verfügung die Schwärzung ihres Namens erreichten. Danach: Landgericht, Oberlandesgericht, Bundesgerichtshof. Sie sei, so schrieben die Verfasser der Aufstellung, IMK gewesen, Inoffizielle Mitarbeiterin zur Sicherung einer konspirativen Wohnung. Das heißt, sie hätte eine Wohnung oder eine Gaststätte für MfS-Besuche zur Verfügung zu stellen gehabt. In Halle und Naumburg befanden die Gerichte, daß eine Veröffentlichung ihres Namens auf dem „Produkt einer ausführlichen Arbeit“ (Joachim Gauck) nicht statthaft sei.

Wut, richtige Wut empfindet die Geschäftsführerin des Neuen Forums Halle, Sabine Leloup, über diese Entscheidungen: „In einer offiziellen Auskunft der Gauck- Behörde für das Verfahren“, murrt sie, „wurde uns sogar bestätigt, daß als Erkennungszeichen mit dem Führungsoffizier Postkarten ausgetauscht wurden.“ In ihrem kleinen Forum-Büro im Hallenser „Reformhaus“ hängt demonstrativ die Kopie der Verdienstmedaille für Manfred Stolpe. In beiden Entscheidungen, die bislang vom Bundesgerichtshof getroffen wurden, ging es nicht um die Frage: IM oder nicht? Diskutiert wurde nur, ob die Nennung auf einer solchen Auflistung rechtens ist. Sie ist es nicht.

„Seien wir doch ehrlich“, gibt sich der gebürtige Westler Müggenborg souverän: „Wer will denn heute noch was von IMs hören?“ Interessant seien die Prozesse nur noch wegen der Kosten. 10.000 Mark, schätzt der Jurist, sind in jedem Fall, wo ein Ex-IM erfolgreich gegen die Veröffentlichung seines Namens klagt, zu zahlen.

Heidi Bohley, als Aktivistin des Neuen Forums Gegenspieler Müggenborgs, sieht das natürlich anders. Zugepackt mit Aktenordnern sitzt auch sie im Forum-Büro und zweifelt inzwischen am Rechtsstaat. „Das, was der Bundesgerichtshof da entschieden hat“, sagt sie verbittert, „ist nichts weiter als ein Maulkorb für Anständige. Hier wird versucht, Aufklärung einen Riegel vorzuschieben.“

Was jetzt wird, weiß niemand. Denn außer um die Frage, ob die Liste ausgelegt werden darf, geht es auch um das Geld. In diesen Tagen bitten die Bürgerrechtler öffentlich um Spenden, um neben den IM-Listen-Prozessen auch die gegen PDS-Star Gregor Gysi führen zu können. Immerhin wünschen sich etliche Hallenser, daß die Bürgerrechtler bei den IM-Listen-Prozessen bis in die letzte Instanz gehen.

Jetzt wollen die Bürgerrechtler vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ziehen. Noch weiß zwar niemand, ob sich das Gericht überhaupt als zuständig ansehen wird, doch die Chancen stehen gut. Heidi Bohley, heute arbeitslos, hat die Frage tausendmal beantwortet – und sie tut es weiter: „Wenn ich das Vorwort der damaligen Verfasser richtig verstanden habe, sollten die Stasi-Listen vor allem für eines sorgen, nämlich dafür, daß sich die Hallenser ihre Geschichte erzählen. Das aber hat nur sehr selten funktioniert.“

Ein paar Mal hat das Neue Forum noch Gesprächskreise organisiert. Die Zeit hat sie überholt. Auch Heidi Bohleys IMs haben nichts gesagt. Eine Frau wurde seit der Veröffentlichung ihres Namens auf der Liste nicht mehr gesehen. Eine andere wollte wohl mal zu dem Gesprächskreis kommen, kam aber nie. Mit einer dritten immerhin hat Bohley lange geredet, ihr geglaubt, vielleicht sogar verziehen. „Also, mir sind ansonsten keine Fälle bekannt, wo ein Gespräch zwischen den IMs und den Leuten, die es betraf, zustande gekommen ist. Aber das muß ja nicht heißen, daß es solche Fälle nicht gibt.“

Jetzt hat Heidi Bohley neue Schriftstücke in die Hand bekommen. Und die Zweifel sind plötzlich wieder da, ob das, was sie über sich gelesen hat, wirklich Aussagen sind, die gemacht werden mußten. Sagt es und sitzt im dritten Stock des „Reformhauses“. Schaut aus dem Fenster in Richtung des Cafés von Gabriele H. und zweifelt am Rechtsstaat.