Die Kunst der Verschleierung

■ Konservativismus: Außer Egoismus nichts gewesen

Es gibt Dinge, die so selbstverständlich sind, daß man nicht weiter darüber nachdenkt. Solche Selbstverständlichkeiten – beispielsweise, daß ich meine Füße bewegen muß, um laufen zu können – sind jedoch nicht auf den Bereich alltäglicher Handlungen beschränkt. Wenn man darauf gestoßen wird, bemerkt man sie auch in der politischen Sphäre und wundert sich im nachhinein mächtig. Genauso geht es einem mit dem Buch von Ted Honderich über den Konservativismus. Was ist eigentlich die Grundlage der Konservativen und was ihr Leitziel? Während Liberalismus und Sozialismus sich letztlich als Kinder der Aufklärung immer wieder um ihre theoretische Begründung bemühen haben, tut der Konservativismus nichts dergleichen – es gab ihn scheinbar schon immer.

Tatsächlich weist der Philosoph Ted Honderich anschaulich nach, daß der Konservativismus eine anschmiegsame Überzeugung ist, die in unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungen in organisierter Form auftritt. Obgleich Honderich eher ein Grundlagenwerk denn eine aktuelle Polemik vorlegt, ist das Buch in hohem Maße aktuell. Nicht nur, weil der Autor sich unter anderem auch mit der Reagan- und Thatcher-Ära auseinandersetzt, sondern weil hier einer nach dem Kollaps der Sowjetunion und unzähligen Büchern über den Sinn des Sozialismus endlich mal wieder nach den Zielen der Rechten fragt. Nicht denen der Rechtsradikalen, nicht der Neofaschisten oder anderer Hurra-Nationalisten, sondern nach den Grundlagen der klassischen Konservativen.

Wenn der in England lebende Amerikaner Honderich sich auch ausschließlich mit den Tories und den US-Konservativen beschäftigt, ist seine Untersuchung doch auch für die Bundesrepublik hochinteressant. Die deutsche CDU/ CSU kann man zwar nicht umstandslos mit den angelsächsischen Konservativen gleichsetzen – dafür sind sie viel zu sehr in ein spezifisches kontinentaleuropäisches und noch einmal mehr deutsches System eingebunden –, in ihren Grundüberzeugungen dürften sie aber doch eine erhebliche Schnittmenge im Glauben aufweisen.

So wird „Das Elend des Konservativismus“ gerade für potentielle Koalitionspartner unter Roten und Grünen zu einer spannenden Lektüre – schließlich soll man seine Gegner ja kennen, bevor man sich mit ihnen an einen Kabinettstisch setzt. Das ist schwieriger, als es auf den ersten Blick scheint, denn konservative Denker sind Meister der Verschleierung. Es ist Honderichs Verdienst, die landläufigen Annahmen über den Konservativismus systematisch zu hinterfragen und Stück für Stück zu demontieren. Das Ergebnis ist wiederum symptomatisch: erschreckend und doch gleichzeitig wohlbekannt. Sämtliche Denkfiguren der Konservativen kommen bei der Suche nach dem Leitmotiv auf den Prüfstand: das Festhalten am Bewährten, die Stellung zu Wandel und Reform, die Ablehnung von Theorien und Ideologien zugunsten des „gesunden Menschenverstandes“, der Verweis auf die Erfahrungen, die konservativen Glaubenssätze über die Natur des Menschen und die sich notwendigerweise daraus ergebenden gesellschaftlichen Organisationsformen. Dazu gehört angeblich, daß der Mensch externe Leistungsanreize braucht, ist die Freiheit des Besitzes wesentlich, das Privateigentum notwendige und hinreichende Voraussetzung des gesamtgesellschaftlichen Reichtums für – fast – alle Mitglieder der Gesellschaft, jedenfalls die, die es verdienen.

Es ist verblüffend, wie es Honderich regelmäßig gelingt, scheinbar wasserdichte konservative Aussagen als tautologisch zu entlarven oder aber als solche, die auch andere politische Richtungen für sich in Anspruch nehmen können. Am Ende dieser breitangelegten Analyse kommt Honderich zu zwei Feststellungen, die in einem anderen Kontext umstandslos als linksradikale Rhetorik denunziert würden. Der Autor zeigt auf, daß der Konservativismus sich nur mühsam mit der Idee der Demokratie arrangiert hat und in seinem Kern nach wie vor antidemokratisch ist. Was aber ist sein Kern? Die Konservativen sind Besitzstandswahrer aus egoistischen Motiven. „Unsere Schlußfolgerung lautet jedoch nicht etwa, daß die Konservativen egoistisch sind. Sie lautet vielmehr, daß sie nichts anderes als dies sind. Denn Egoismus ist Anfang und Ende ihrer Ideologie, er ist die einzige Leitmaxime, die sie haben. Sie stehen da ohne die Unterstützung und die Legitimierung durch ein moralisches Prinzip.“

Im Nachwort setzt sich der Philosophieprofessor am University College in London mit der Rezeption seines 1990 in England erschienenen Buches auseinander. Bei allem empörten Aufschrei, so Hondrich lakonisch, sei es keinem konservativen Guru gelungen, ein anderes Leitmotiv des Konservativismus zu benennen. Jürgen Gottschlich

Ted Honderich, „Das Elend des Konservativismus“. Rotbuch Rationen, Hamburg 1994, 399 S., 58 DM