■ Auszüge der Rede Václav Havels in der Karls-Universität in Prag
: „Die Zeit der Entschuldigungen geht zu Ende“

(....) Das Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen bedeutet für uns mehr als bloß eines der vielen Themen unserer Diplomatie. Es ist ein Teil unseres Schicksals, sogar ein Teil unserer Identität. Deutschland ist unsere Inspiration wie unser Schmerz; eine Quelle von verständlichen Traumata und vielen Vorurteilen und Irrglauben sowie von Maßstäben, auf die wir uns beziehen; einige sehen Deutschland als unsere größte Hoffnung, andere als unsere größte Gefahr. Man kann sagen, daß sich die Tschechen durch ihre Einstellung zu Deutschland und den Deutschen sowohl politisch als auch philosophisch definieren und daß sie durch die Art dieser Einstellung nicht nur ihr Verhältnis zur eigenen Geschichte, sondern auch die eigentliche Art ihres nationalen und staatlichen Selbstverständnisses bestimmen.

Für die Deutschen ist das Verhältnis zu den Tschechen verständlicherweise nicht von einer derartig fundamentalen Bedeutung, es ist für sie jedoch wichtiger, als manche von ihnen vermutlich zugeben würden: Traditionell ist es einer der Tests, der auch den Deutschen ihr Selbstverständnis enthüllt.

(...)

Der einzigartige Verlauf des beinahe tausendjährigen Zusammenlebens der Tschechen und der Deutschen in unserem Lande, obgleich es während der letzten zwei Jahrhunderte immer komplizierter wurde und schließlich zugrunde ging, bleibt ein integraler Bestandteil unserer Geschichte, und dadurch auch unserer gegenwärtigen Identität als Bürger der Tschechischen Republik, und stellt einen Wert dar, den wir nicht vergessen dürfen. (...)

1. (...)

2. Es wäre eine gefährliche Vereinfachung, wenn man das tragische Ende des tausendjährigen Zusammenlebens der Tschechen mit den Deutschen ausschließlich in der Aussiedlung der Deutschen nach dem Krieg sähe. Ohne Zweifel stellte die Aussiedlung das physische Ende dieses Zusammenlebens in einem gemeinsamen Staat dar, denn dadurch ging das Zusammenleben in der Tat zu Ende. Der tödliche Schlag, der es verursachte, wurde ihm jedoch durch etwas anderes versetzt, und zwar durch ein fatales Versagen eines großen Teils unserer Bürger deutscher Nationalität, die der in Hitlers Nationalsozialismus verkörperten Diktatur, Konfrontation und Gewalt den Vorzug vor Demokratie, Dialog und Toleranz gaben. Während sie sich auf ihr Recht auf Heimat beriefen, sagten sie sich in Wirklichkeit von ihrer Heimat los. Sie negierten dadurch, unter anderem, die hervorragenden Leistungen zahlreicher deutscher Demokraten, welche die Tschechoslowakei als ihre Heimat mitgestaltet hatten. So mangelhaft die Lösung der Nationalitätenfrage in der Vorkriegs-Tschechoslowakei auch gewesen sein mag, kann sie dieses Versagen nie rechtfertigen.

Wir können unterschiedliche Ansichten über die Nachkriegsaussiedlung haben, wir können sie jedoch nicht aus dem geschichtlichen Kontext lösen. Wir können sie nicht getrennt sehen von all den Schrecken, die sich davor abgespielt hatten und ihre Ursachen darstellten. Bis vor kurzem hielt ich dies für etwas derart Selbstverständliches, daß ich keinen Bedarf spürte, es wiederholt zu betonen; heute muß ich es jedoch klar zum Ausdruck bringen, weil sich in Deutschland Menschen, die dies alles ignorieren oder sogar in Frage stellen, wieder zu Worte melden. (...) Darüber, wer als erster den Dschinn eines tatsächlichen Nationalhasses aus der Flasche ließ, kann kein Zweifel bestehen. Und wenn wir – als Tschechen – unseren Teil der Verantwortung für das Ende des tschechisch-deutschen Zusammenlebens in den böhmischen Ländern anerkennen sollen, müssen wir der Wahrheit halber auch sagen, daß wir uns zwar von dem heimtückischen Virus der ethnischen Auffassung von Schuld und Bestrafung anstecken ließen, daß wir diesen Virus jedoch nicht – wenigstens nicht in dessen moderner verheerender Form – in unser Land gebracht haben.

3. Meine dritte Bemerkung zum Thema Ende des tschechisch-deutschen Zusammenlebens bezieht sich auf das Münchner Abkommen. Ich bin nicht sicher, ob es einigen Menschen, insbesondere auf der deutschen Seite, genügend bewußt ist, daß München nicht bloß eine ungerechte Lösung einer strittigen Minderheitsfrage, sondern die letzte und in gewisser Hinsicht ausschlaggebende Konfrontation der Demokratie mit der Nazi-Diktatur war. Damals kapitulierte die Demokratie vor der Diktatur und öffnete ihr dadurch den Weg zu jenem unerhörten Anschlag auf all die grundlegenden Werte der Zivilisation, sogar auf das eigentliche Wesen der menschlichen Koexistenz – wohl dem schwersten Schlag dieser Art, der in der Geschichte geführt wurde. (...)

4. (...)

Wovon sollen wir ausgehen, wenn wir eine neue Beziehung zwischen unseren Völkern aufbauen wollen? Welchen Weg sollen wir gehen? Vor allem sollten wir versuchen, uns darauf zu einigen, welche Rolle eigentlich der Vergangenheit beizumessen ist. Auf keinen Fall können wir sie vergessen. (...) Wir müssen unsere Vergangenheit und unsere Geschichte kennen und unsere eigene Meinung dazu bilden. Das bedeutet jedoch nicht, daß wir uns in unsere Geschichte zurückversetzen müssen, daß wir versuchen sollten, uns in unsere Vorfahren zu verwandeln, daß wir immer wieder die von ihnen erlebten Situationen rekonstruieren und die von ihnen angenommenen Haltungen nachahmen, uns immer wieder mit deren Leid quälen oder über deren Erfolge Rührung empfinden und aus solchen Gefühlen politische Konsequenzen ziehen müssen. (...) Übereinstimmung in dieser Angelegenheit könnte mehrere bedeutende Folgen haben. Vor allem würde es bedeuten, daß die Zeit der Entschuldigungen zu Ende geht und eine Zeit der sachlichen Suche nach der Wahrheit kommt. (...) Kurz gesagt, es ist erforderlich, ein für allemal klar zu sagen, was in die Geschichte gehört und als Geschichte behandelt werden sollte. (...)

Vom tschechischen Standpunkt gesehen gehört zu deren bedeutenden und logischen Konsequenzen eine eindeutige Ablehnung aller Versuche, aus längst vergangenen historischen Ereignissen oder Ungerechtigkeiten einen ganzen Komplex von aktuellen politischen oder rechtlichen Forderungen und Ansprüchen herauszuholen, welche selbst die Grundlage der Nachkriegsordnung Europas in Frage stellen. Die Stimmen, die solche Versuche befürworten, sind zwar nicht zahlreich, in der tschechischen Öffentlichkeit werden sie aber mit einer besonderen Empfindlichkeit wahrgenommen. Deswegen halte ich es für meine Pflicht, an dieser Stelle ganz klar zu sagen, daß die Tschechische Republik ein direkter Miterbe der tschechoslowakischen Staatlichkeit ist, welche aus zwei furchtbaren Kriegen geboren wurde, an deren Entfesselung die Tschechen keinen Anteil hatten. Unsere Republik wird deshalb niemals über eine Revision von deren Ergebnissen verhandeln, sie wird keine Eingriffe in die Kontinuität ihrer Rechtsordnung zulassen und auf keine Korrektur der Geschichte auf Kosten unserer Zeitgenossen eingehen.

Wenn eine Schuld in Form von Entschädigung der verbleibenden Opfer der Nazi-Willkür zu begleichen bleibt, so soll sie bezahlt werden. Aber keine Geldsumme in keiner Währung wird je all das wiedergutmachen, was wir oder unsere Vorfahren durch das Verschulden des Nationalsozialismus durchmachen mußten. (...) Und wir sind nicht so töricht, den heutigen Generationen des demokratischen Deutschlands Rechnungen für all das Unrecht zu senden, welches einige von deren Vätern, Großvätern und Urgroßvätern vor vielen Jahren begangen haben, ebenso wie wir den Völkern der ehemaligen Sowjetunion für die in den Jahrzehnten des Kommunismus an unserem Land sowie an unseren Seelen angerichteten Schäden keine Rechnungen aufstellen. Und weil das so ist, halten wir all die Versuche, von uns entweder in materieller oder anderer Form Ersatz für die Nachkriegsaussiedlung zu verlangen, für um so absurder.

Der Nationalsozialismus, München, der Krieg und all dessen bittere Früchte gehören in die Geschichte, und das einzige, was wir tun können und auch tun wollen, ist uns zu bemühen, diese Geschichte zu begreifen und alles dafür zu tun, daß sie sich nie mehr wiederholt. (...)

Diejenigen, die aus unserem Land einst vertrieben oder ausgesiedelt wurden, sowie deren Nachkommen sind bei uns willkommen, ebenso wie alle Deutschen hier willkommen sind. Sie sind willkommen als Gäste, die das Land, in dem Generationen ihrer Vorfahren gelebt haben, in Ehren halten, die Stätten betreuen, an die sie sich gebunden fühlen, und als Freunde mit unseren Bürgern zusammenarbeiten. Vielleicht trennt uns keine große Entfernung von den Tagen, wenn Tschechen und Deutsche – nachdem sie sich in dem nach innen offenen Raum der Europäischen Union zusammenfinden – in der Lage sein werden, sich ohne Hindernisse überall auf deren Gebiet niederzulassen und an dem Aufbau ihres auf diese Weise erwählten Heimatortes teilzunehmen. Ein gutes Verhältnis zwischen Völkern, und daher auch unsere Versöhnung, kann nur der Zusammenarbeit freier Bürger entspringen, die der Versuchung widerstehen, sich unter kollektivistischen Bannern zu scharen und in deren Schatten die Geister der Stammesfehden hervorzurufen. Mit anderen Worten: Die Zeit der Konfrontation muß ein für allemal zu Ende gehen, und eine Zeit der Kooperation beginnen.

Die Voraussetzungen für eine gute Zusammenarbeit sind also gegeben. Und sollten störende Töne, Stimmen oder Gefühle zum Vorschein kommen, ist es erforderlich, gegen sie auf beiden Seiten viel energischer aufzutreten, als es bisher der Fall war. Auf der deutschen Seite sind es Stimmen, glücklicherweise vereinzelte und isolierte, die versuchen, die intellektuellen Ursprünge der einstigen deutschen Katastrophe zu rehabilitieren, Stimmen heimlicher Nostalgiker, die sich an die Idee klammern, der Nationalstaat sei der Höhepunkt des menschlichen Strebens, und die sich von dem Glauben an eine besondere deutsche Sendung nicht trennen können, welche Deutschland berechtigen soll, die anderen so zu betrachten, als sei es ihnen übergeordnet. Auf der tschechischen Seite gibt es dagegen eine seltsame, durchaus provinzielle Kombination von der Angst vor den Deutschen und Servilität ihnen gegenüber. (...)

Ich glaube an das demokratische, liberale und europäische Deutschland. (...) Ich glaube an die Millionen deutscher Demokraten. Ich glaube an Deutschlands aufrichtiges Bestreben, den auf der Allgemeingültigkeit der Grundwerte der euro-amerikanischen Zivilisation beruhenden Prozeß der europäischen Vereinigung weiterzuentwickeln und zu vertiefen; ich glaube an Deutschlands Engagement dafür, daß Europa zu einem Kontinent des Friedens, der Freiheit, Zusammenarbeit, Sicherheit und gerechter Verhältnisse unter all seinen Staaten, Völkern und Regionen wird. (...)

Ich glaube auch an die positive Entwicklung der demokratischen Tschechischen Republik; ich glaube, daß sie das traurige Erbe des Kommunismus sowie der früheren historischen Traumata schnell bewältigen und allmählich zu einem vollwertigen und verantwortungsbewußten Mitglied der Familie der europäischen Demokratien werden wird.

Ich glaube, daß das gemeinsame Engagement für jene Grundwerte der Zivilisation, auf denen das Europa von heute aufbaut, uns diese Arbeit erleichtern wird und daß wir in uns genügend Mut finden, um all denen die Stirn zu bieten, deren Politik sich nach rückwärts in eine unheilvolle Vergangenheit orientiert und demnach einen dicken Strich durch unsere positive Zukunft ziehen möchte.

Ich glaube an die Macht der Wahrheit und des guten Willens als Hauptquellen unseres gegenseitigen Verständnisses. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Václav Havel