Wohnen ohne Dach

■ Büroadresse der Kreuzberger Grünen als Meldeadresse für Obdachlose / Solidarität mit verurteiltem Pfarrer Ritzkowsky

Die Bezirksgruppe Bündnis 90/ Die Grünen Kreuzberg solidarisiert sich mit dem Pfarrer Joachim Ritzkowsky, der Mitte Januar vom Amtsgericht Tiergarten wegen zweifacher Falschbeurkundung zu einer Geldstrafe von 3.000 Mark auf Bewährung verurteilt worden war (die taz berichtete). Ab sofort stellen sie ihre Büroadresse in der Adalbertstraße 92 als Meldeadresse für Obdachlose zur Verfügung, teilten sie in einer Presseerklärung mit.

Der Pfarrer der evangelischen Heilig-Kreuz-Gemeinde in Kreuzberg hatte mit Einverständnis des Bezirksamtes den Wohnungslosen Manfred Lehmann unter der Anschrift des Gemeindehauses angemeldet, damit dieser einen Krankenschein bekommen und die Sozialhilfe in seinem Wohnumfeld Kreuzberg beziehen kann. Im Juni 1993 meldete er Lehmann zum ersten Mal im Gemeindehaus an. Das Landeseinwohneramt (LEA) erstattete daraufhin Anzeige, schickte Ritzkowsky einen Bußgeldbescheid und meldete Lehmann von sich aus wieder ab. So konnte er zum Verhandlungstermin im Oktober letzten Jahres nicht als Zeuge geladen werden. Deshalb meldete Ritzkowsky den Wohnungslosen im Oktober 1994 erneut in seiner Gemeinde an und zeigte sich dann selbst beim Amtsgericht an. Prompt schickte ihm das LEA einen zweiten Bußgeldbescheid.

Ritzkowsky, der gegen das Urteil in Berufung gegangen ist, verfolgt mit seinem Engagement ein politisches Ziel: Solange der Staat nicht genügend Wohnraum bereitstelle, müsse vom Senat die Möglichkeit geschaffen werden, daß sich Obdachlose am Ort ihres häufigsten Aufenthaltes polizeilich anmelden können, auch wenn keine Wohnung vorhanden ist.

Die Sozialstadträtin von Kreuzberg, Ingeborg Junge-Reyer (SPD), die in dem Prozeß als Zeugin ausgesagt hat, daß die Scheinanmeldung Lehmanns und anderer Wohnungsloser mit Einverständnis des Bezirksamtes erfolgt sei, verfolgt ebenfalls ein politisches Interesse. Ritzkowsky und sie fordern eine Änderung des Meldegesetzes, das eine Wohnung als einen „geschlossenen Raum“ definiert, „der zum Wohnen oder Schlafen benutzt wird“.

Auch Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) fordert, daß die Praxis der Meldebehörde geändert wird. „Der Pfarrer hat recht“, so Stahmers Pressesprecherin Rita Hermanns. „Wir hätten es gern, daß Leute Obdachlose anmelden, damit diese versorgt sind.“ Stahmer habe sich bereits im letzten Jahr an die Innenverwaltung gewandt. Doch die ist der Meinung, so deren Pressesprecher Norbert Schmidt, daß Personen ohne festen Wohnsitz „keine Nachteile entstehen“. Barbara Bollwahn