Ungreifbarer gläserner Spuk

Wie Licht zur konstruktiven Bausubstanz und die Hauswand zum öffentlichen Bildschirm wurde  ■ Von Christoph Asendorf

Kürzlich erteilten die Konzerne Kaufhof und Horten dem Architekturbüro Alsop und Störmer einen ungewöhnlichen Auftrag. Er könnte in der Nähe des Hamburger Bahnhofs in Berlin zu einem Kaufhaus führen, das die stadtzerstörende Tristesse solcher Bauten aus den sechziger Jahren transformiert: Hier nämlich würde ein bestehender Bau bis auf das Stahlbetonskelett abgetragen und rundum verglast. Das berüchtigte Eiermannsche Fassadenraster verschwände, der neue Horten wäre tagsüber transparent und erstrahlte nachts als Leuchtkörper. Die Architekten wollen eine Fassade als Medienwand konstruieren. Durch „liquid crystal panels“ ließe sich die Lichtzufuhr beliebig manipulieren und man könnte auch, was die Kosten allerdings in die Höhe triebe, die Wand als Bildschirm nutzen. Eine typische Bauaufgabe der neunziger Jahre? In Wirklichkeit durchzieht das Thema einer medialen Architektur das ganze Jahrhundert – das Jahrhundert auch des Kinos.

Mies van der Rohe sollte 1927 für die deutschen Spiegelglasfabriken einen Demonstrationsraum in der Stuttgarter Werkbundausstellung schaffen. Er wählte eine ebenso puristische wie irritierende Lösung: Um die raumgestalterischen Möglichkeiten von Glas zu demonstrieren, unterteilte er die einzelnen Raumzonen ausschließlich mit von schlanken Metallrahmen eingefaßten Glaswänden. Dafür benutzte er klares und verschieden getöntes, aber auch ein- und doppelseitig mattiertes Spiegelglas. Die in einer unzugänglichen Nische aufgestellte Lehmbruck- Plastik beispielsweise ist so von unterschiedlichen Glassorten umgeben. Das hat zur Folge, daß sie je nach Betrachterstandpunkt verschieden deutlich oder durch das Spiel der Reflexe selbst als Teil einer Spiegelwelt erscheint.

Lichtspiele

Als der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer diesen Raum besuchte, nahm er vor allem das Lichtspiel wahr: „Ein Glaskasten, durchscheinend, die Nachbarräume dringen herein. Jedes Gerät und jede Bewegung in ihnen zaubert Schattenspiele auf die Wand, körperlose Silhouetten, die durch die Luft schweben und sich mit den Spiegelbildern aus dem Glasraum selber vermischen.“ Diese Architektur erschien ihm als „ungreifbarer gläserner Spuk, der sich kaleidoskopartig wandelt“.

Die Wand als Projektionsfläche stellte Mies mit dem Pavillon der deutschen Elektroindustrie auf der Weltaustellung 1929 in Barcelona vor. Hier entstand der Raum tatsächlich aus Licht. In dem fensterlosen Kubus mit stützenfreiem Innenraum wurden flächendeckend und um die Ecken herumlaufend Fotografien projiziert, die Ausblicke in imaginäre Räume freigaben. Damit stellt sich ein eigentümlicher Schwebezustand her, weil ja das reale Raumgefüge zugleich sichtbar bleibt.

Die Leuchtwand besteht aus Milchglasscheiben, zwischen denen sich nicht sichtbare Lichtelemente befinden. Auf diese Weise erscheint die ganze Wand als homogen leuchtende Fläche. So verwandelte Mies ein Mittel der Reklametechnik in Architektur. Die Leuchtwand steht gleichberechtigt neben den anderen Wänden aus Glas und Marmor. Zugleich aber ist sie in ihrer formalen Klarheit das komplexeste Bauelement, denn sie erfüllt gleich drei Funktionen: tagsüber ist sie ein Fenster, nachts eine Lichtquelle – und zudem ist sie undurchdringlicher Raumabschluß. Die Wand wird multifunktional.

Zu dieser Zeit, Ende der zwanziger Jahre, als sich die nächtlichen Großstadtstraßen durch den massiven Einsatz von Lichtreklamen immer mehr in virtuelle Räume verwandeln, stehen die Architekten allgemein vor der Frage, wie sie dem Verschwinden ihrer Architekturen hinter applizierten Reklamen begegnen können. In einem nicht realisierten Projekt für ein Geschäftshaus der Firma Adam in Berlin schlägt Mies 1928 eine elegante Lösung vor, die der Zerstückelung der Fassaden entgegengewirkt hätte. Er wählt eine Skelettkonstruktion mit einer vorgehängten und oberhalb des Erdgeschosses mattierten Glasfassade. Nur die einzelnen Ebenen zeichnen sich noch als schlanke horizontale Linien ab. Tagsüber ergibt das innen ein mildes, gleichmäßiges Licht. Am Abend jedoch sei das Gebäude, so Mies an den Auftraggeber, „ein gewaltiger Lichtkörper, und Sie sind in der Anbringung von Reklame ungehindert. Sie können machen, was sie wollen, gleichviel, ob Sie darauf schreiben ,Zur Sommerreise‘, ,Zum Wintersport‘ oder ,4 billige Tage‘. Immer wird eine solche Leuchtschrift auf dem gleichmäßig erhellten Hintergrund eine märchenhafte Wirkung ergeben“. Dieses Projekt wäre ein Vorläufer der heutigen Medienfassaden geworden, ein ganzes Gebäude als Lichtkörper, auf dem Schriften erscheinen wie auf einem Bildschirm.

Poème electronique

Als der Philips-Konzern 1958 nach einer zukunftsweisenden Präsentation für die Brüsseler Weltausstellung suchte, wandte man sich an Le Corbusier. Der General Art Director von Philips formulierte das allgemeine Programm für den Firmenpavillon, nämlich eine Synthese aus Licht und Ton in einer vollständig neuen und modernen Form. Diese Aufgabenstellung – kein Bau, keine Architektur im gewohnten Sinn, statt dessen eine Rauminszenierung mit wesentlich immateriellen Mitteln – formulierte Le Corbusier für sich um: „Ich werde keinen Philips-Pavillon bauen, sondern ein elektronisches Gedicht.“

Das Gerüst des Pavillons bildeten Betonplatten in einem Netz aus Stahlkabeln, das kompliziert gekrümmte Oberflächen ohne einen einzigen rechten Winkel ergab. Für das Innere entwarf Le Corbusier ein Szenario, das die Geschichte der Menschheit in sieben Sequenzen erzählte. Die Realisation bestand aus projizierten Bildern, Farbprojektionen und der größtenteils elektronischen Musik von Edgar Varèse. Die Klänge wanderten über die sogenannten „Routes du son“ durch den Raum, durch Hunderte von an den Seiten angebrachten Lautsprechern. Trotz der enormen Probleme, die die Synchronisation von Bildern, Farben und Klängen aufwarf, wurde es auf diese Weise möglich, einen Innenraum mit ständig sich ändernden Eigenschaften zu erzeugen. Die in das Poème electronique hereinströmenden Besucher fanden sich in einer vom Gerüst unabhängig scheinenden virtuellen Räumlichkeit, allseitig umgeben von Bild-, Farb- und Tonfolgen. Le Corbusiers avancierte Arbeit bindet das Erscheinen des Innenraums an eine ephemere Multimedia-Inszenierung – das Gerüst, von außen undurchdringliche Hülle, ist innen nur mehr Bildträger und Klangquelle.

Black Boxes

Einige Architekten konzentrieren sich heute eher auf die Fassade. Sie wird zu einer Kreuzung aus Fensterflächen und Bildschirmen, Funktionen überlagern sich. „Elektronische Dekors“ verrücken die Erscheinung der Bauten weiter ins Virtuelle und Ephemere. Besonders deutlich ausgeprägt ist dieser Aspekt bei Jean Nouvel. In seinem Entwurf für das Verlagshaus DuMont zerlegte er die Fassade in mehrere gläserne Schichten, die mit Schlagworten, Aphorismen und Zeitungstexten bedruckt sind. Der irisierende Gesamteindruck wird durch die Rasterstruktur des beweglichen Sonnenschutzes noch verstärkt.

Im Pariser „Institut du Monde Arabe“ von 1986 waren die Blendenöffnungen eines Fotoapparates Vorbild. Die einzelnen Fassadenelemente regulieren, über Fotozellen gesteuert, den Lichteinfall im Gebäude und bilden zugleich eine variable ornamentale Struktur. Aber die Ausprägung solcher Konzepte stammt von Myrto Vitart. Für das Büro Nouvel realisierte er 1988 das Kulturzentrum von St. Herblain: Ein Gebäude, so der Architekturtheoretiker Gerhard Auer, als „Black Box“, selbst ein elektronischer Baustein, zeichenloser schwarzer Block, der nach einer Aufladung mit Energie und Information aber jeden Gestaltwunsch zu erfüllen vermag. Nachts werden je nach Beleuchtung die einzelnen Schichten des Gebäudes und das Geschehen in ihm sicht- oder unsichtbar.

Derartige Bauten sind weniger über ihre konstruktive oder plastische Gestalt definiert als durch den Fluß an Informationen, die sie abgeben. Für Nouvel wird der Raum als statische Kategorie zu einem zweitrangigen Parameter. Die Dichte als allgemeines Charakteristikum moderner Gebäude, die Integration verschiedenartiger Funktionen, soll in Architektur überführt werden. Virtualität und Realität überlagern sich. Der Ort der Vermittlung ist die Fassade, keine plane Fläche mehr für Lichteinlaß und Klimaregulierung, sondern eine oft mehrschichtige Zone als Schnittstelle: Ausblick, Einblick, Screen.