Im Namen der Kirche und des Bezirksamtes

■ Pfarrer wegen Scheinanmeldung von Obdachlosem angeklagt / Sozialstadträtin verlangt Gesetzesänderung

Christliche Nächstenliebe, so Pfarrer Joachim Ritzkowsky, habe ihn geleitet, als er den kranken und wohnungslosen Manfred Lehmann in der evangelischen Kirchengemeinde Heilig Kreuz pro forma anmeldete, damit dieser einen Krankenschein und Sozialhilfe bekommt. Deshalb muß er sich heute vor dem Amtsgericht Tiergarten wegen „Zuwiderhandlung gegen das Meldegesetz“ verantworten.

Ritzkowsky hatte Lehmann im Sommer 1993 beim Landeseinwohneramt (LEA) angemeldet. Als dieses erfuhr, daß Lehmann nicht im Pfarrhaus wohnt, erhielt der Pfarrer einen Bußgeldbescheid über 129 Mark. Ritzkowsky legte Einspruch ein, der Fall landete vor dem Amtsgericht Tiergarten. Der Gerichtstermin im Oktober letzten Jahres platzte allerdings, weil das LEA Lehmann wieder abgemeldet hatte und ihm ohne Adresse keine Vorladung als Zeuge geschickt werden konnte. Ritzkowsky meldete den Obdachlosen ein zweites Mal in seiner Gemeinde an und zeigte sich dann selbst beim Amtsgericht an. Prompt bekam er wieder eine Anzeige und einen Bußgeldbescheid von 234 Mark.

„Lehmann ist kein Einzelfall“, betont der Pfarrer, „andere Gemeinden machen das auch.“ „Noch viel absurder“ sei die Tatsache, daß er in anderen Fällen auf ausdrückliche Bitte des Bezirksamtes gehandelt hat. Das wird die Sozialstadträtin von Kreuzberg, Ingeborg Junge-Reyer (SPD), auch vor Gericht aussagen, vor dem sie heute als Zeugin geladen ist. „Wir akzeptieren die Anmeldung durch die Kirchengemeinde“, so Junge-Reyer. Derzeit habe sie in ihrem Bezirk etwa zwölf Obdachlose mit Scheinanmeldungen. „Das wirkliche Leben ist anders als das Meldegesetz“, vertritt die Stadträtin. Deshalb müsse das Gesetz so geändert werden, daß man sich auch da melden kann, „wo man kein Bett hat“.

Auch Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) ist für eine Änderung der Praxis der Meldebehörde. Im übrigen habe die Senatsverwaltung für Soziales nichts gegen Scheinanmeldungen, so Pressesprecherin Rita Hermanns, wenn es darum gehe, Wohnungslose zu versorgen.

Auch Personen ohne festen Wohnsitz bekommen Sozialhilfe. In solchen Fällen richtet sich die Zuständigkeit nach dem Geburtsdatum. Der Obdachlose Lehmann müßte nach dieser Regelung seine Sozialhilfe vom Bezirksamt Treptow beziehen. Da der Fünfzigjährige aber krank ist und seinen Lebensmittelpunkt in Kreuzberg hat, ist es für Junge-Reyer unzumutbar, daß er „von Pontius zu Pilatus läuft“. Die Innenverwaltung jedoch hält am Meldegesetz fest: „Es hat auch die Absicht, daß keine völlige Beliebigkeit gegeben ist“, so Pressesprecher Norbert Schmidt. Barbara Bollwahn