Paris aus der Höhe entdecken

Ein Porträt der französischen Fotografin, Journalistin und Lautréamont-Übersetzerin Ré Soupault, deren Blick sowohl am frühen Bauhaus als auch an der surrealistischen „Ecriture automatique“ geschult war  ■ Aus Paris von Jeanne Haeri

„Wenn man jung ist, ist das fürs Leben“, schrieb 1922 Philippe Soupault, der französische Dichter und Mitbegründer der surrealistischen Bewegung. Heute könnte er sich davon überzeugen, daß diese Zeile sich als weit vorausblickende Hommage an Ré Soupault erweist, mit der er von 1937 an über 50 Jahre lang verheiratet war. Wie eine Epoche ihre Gesichter, hat Ré Soupault, 1901 in Pommern geboren, oft den Weg ihrer Reise durch das Jahrhundert geändert und als Bauhaus-Schülerin, Journalistin, Fotografin, Übersetzerin dessen Wandlung verfolgt.

Eigentlich sollte sie Lehrerin werden, klassischer Weg vieler Töchter aus bürgerlichem Hause zu Beginn des Jahrhunderts. Aber Ré Soupault weiß, was sie nicht will: dem Weg überkommener Vorstellungen folgen, denen die Erfahrung des Ersten Weltkrieges endgültig den Sinn raubten. Vage bleibt in diesem Vakuum vorerst, welche Richtung sie zu gehen gedenkt.

Paris 1994. In der Vergangenheit zu verharren ist nicht ihre Art. Dazu ließe Ré Soupault eine gerade in Paris vorgestellte Ausstellung* ihrer Fotoarbeiten, die Vorbereitung einer neuen Ausgabe des Werks Philippe Soupaults und die Fertigstellung ihrer Memoiren auch nur wenig Zeit.

„Ich fühle den Dingen immer noch gerne auf den Zahn“, sagt sie und muß über ihren eigenen Ausdruck lächeln, der so gar nicht zu ihrer präzisen, um Authentizität bemühten Sprache paßt. Eine Sprache, die zu ihrem Outil wird, seit sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs französische Dichter übersetzt. Als erste in ihrer Muttersprache überträgt sie das Werk Lautréamonts, dessen traumartiger Stil im 19. Jahrhundert die „écriture automatique“ der Surrealisten vorwegnahm und bis dahin als schlicht unübersetzbar galt.

Das Bauhaus als Rettungshafen

Zierlich, das weiße Haar zu einem lockeren Knoten gebunden, erscheint ihr Blick, trotz abnehmender Sehkraft, neugierig und konzentriert auf ihr Gegenüber gerichtet. Der Blick hat für Ré Soupault eine ganz eigene Bedeutung, seit sie 1921 als Schülerin an das von Walter Gropius neu gegründete Bauhaus in Weimar kommt. Begeistert von dessen Idee einer aus ihrer Selbstgenügsamkeit befreiten Kunst, deren Geist in einer neuen Gesellschaft aufgehen sollte, besucht sie die Kurse von Klee, Kandinsky, Schlemmer, Itten. „Es mag heute romantisch klingen, aber das Bauhaus war für uns, die wir uns im Jahre 1918, im Jahre Null aller Werte, befanden, eine Art Rettungshafen. Wir wollten alles ändern, wollten brechen mit der bürgerlichen Gesellschaft, die wir für die Schrecken des Krieges verantwortlich machten. Die Kunst spielte natürlich eine wichtige Rolle, aber nicht losgelöst vom Menschen, von der Menschlichkeit.“

Nostalgie schwingt in ihrer Stimme, vor der die Nachdenklichkeit nicht haltmacht, mit der sie feststellt, „daß das Ideal des Menschen, an das wir am Bauhaus glauben wollten, sich bisher nicht wirklich auf die Gesellschaft übertragen ließ; vor Kriegen zumindest hat die Geschichte ja dennoch keinen Bogen gemacht“.

Ihre persönliche Geschichte bleibt für Ré Soupault untrennbar mit der des Bauhauses verbunden. Sie zeigt auf eine geometrische Farbkomposition gegenüber ihrem Schreibtisch, die ihr überzeugender als Worte die intuitive Kreativität ihrer damaligen Lehrjahre vermittelt. „Das ist ein Itten. Bei Johannes Itten habe ich sehen gelernt. Er hat uns nicht etwa gezeigt, wie wir zu sehen hätten. Er bestand darauf, daß wir von uns aus zu den Dingen Stellung nahmen und nicht das sahen, was man uns zu sehen beigebracht hatte. Der Blick sollte von jeglicher Routine befreit werden, und dann sah man plötzlich mit seinen eigenen Augen und hörte mit seinen eigenen Ohren.“ Der Eindruck dieser Erfahrung ist über ein halbes Jahrhundert später noch so lebendig, als hätte sie erst gestern wieder in Ittens Kurs gesessen und mit geschlossenen Augen, ohne die Gedanken zu lenken, den Kohlestift über das Papier gleiten lassen.

Am Bauhaus hat Ré Soupault noch keinen Kontakt mit dem sich in Frankreich entwickelnden Surrealismus. Und doch stellt sie Jahre später gemeinsam mit Philippe Soupault fest, daß das unbewußte Zeichnen und das automatische Schreiben der Surrealisten Parallelerscheinungen waren. Vielleicht gelang es ihr deshalb, sich einzufühlen in die Sprache Lautréamonts und eine Übersetzung seines Werks möglich zu machen, unter dessen Einfluß André Breton und Philippe Soupault 1919 „Les Champs magnetiques“, den Gründungstext des Surrealismus, zu Papier brachten.

Noch Schülerin am Bauhaus, arbeitet sie mit dem schwedischen Experimentalfilmer Viking Eggeling an dessen Projekt einer Art optischer Musik. „Eggeling wollte mit abstrakten Formen Lichtsinfonien auf schwarze Leinwand bringen; eine faszinierende Idee, damals mit vielen technischen Schwierigkeiten verbunden, bis schließlich 1925 das erste Werk dieser optischen Musik, die diagonale Sinfonie, im Ufa-Palast in Berlin aufgeführt wurde.“

1925 wird das Bauhaus in Weimar geschlossen. Vorbei die Zeit des Rettungshafens, aber nicht die seines Esprits. Sie geht nach Berlin, landet mit dem Künstler Hans Richter vorübergehend in einem neuen Hafen, dem der Ehe, und verdient sich im Sperl-Verlag, wo auch Erich-Maria Remarque tätig ist, als Journalistin ihren Lebensunterhalt. Aber bald schon wird ihr die Stadt zu eng. Ideen gären, sie will weg. Im Europa der damaligen Zeit führen alle Wege irgendwann einmal nach Paris, im Jahre 1929 auch der Ré Soupaults. Ferdinand Léger, den sie auf einer Fahrradtour in der Normandie kennengelernt hatte, macht sie mit dem Pariser Künstlermilieu bekannt: Giacometti, Kertész, Kiki, Man Ray. Täglicher Treffpunkt ist das Café Dôme in Montparnasse, zu dessen Zirkel bald auch Ré Soupault gehört. Sie begeistert sich für Fotografie, arbeitet aber vorerst noch als Korrespondentin für ihren Berliner Verlag.

Auf einem Empfang der Pariser Sowjetbotschaft, „die damals unsere große Hoffnung gegen Hitler war“, begegnet sie 1933 Philippe Soupault. Ihre private Beziehung, die ein Leben lang dauern wird, läßt sie bald auch beruflich gemeinsame Wege gehen. Als Fotografin begleitet sie ihn auf seinen Reportagen durch ganz Europa, Fixpunkt bleibt Paris. Dort ziehen beide immer wieder durch die Straßen, und Ré hält mit ihrer Rolleiflex fest, was ihr auf ihren Streifzügen begegnet. Straßenmusikanten, versteckte Hinterhöfe, neugierig-mißtrauische Kinderblicke am Ufer der Seine; mit jedem Foto scheint man den Geruch eines vergangenen Paris einzuatmen, bewegt sich mit im Tempo einer Metropole der dreißiger Jahre.

Metropolentempo der dreißiger Jahre

Ihre Aufnahmen sind nie gestellt, Poesie des Alltags, entstanden aus der zufälligen Intuition des Augenblicks. „Ich wollte, daß meine Motive ihre eigene Geschichte entfalten. Dabei ist manchmal Überraschendes entstanden. Wie bei dem Foto, das ich 1937 während der Weltausstellung vom Eiffelturm aus aufgenommen hatte. Ich wollte sehen, wie Paris aus der Höhe wirkt. Erst bei der Entwicklung des Films habe ich entdeckt, daß ich den Stand Rußlands und den Nazideutschlands in gegenüberstehender Konfrontation festgehalten hatte.“ Die Fotografie wird zur Passion und der seit den Tagen des Bauhaus „befreite“ Blick zu ihrer Handschrift. Dieser Blick führte sie 1942 in Tunis, wo Philippe Soupault seit 1938 mit der Errichtung des antifaschistischen Senders „Radio Tunis“ beauftragt war, zur Realisierung einer einzigartigen Fotoserie über die Frauen des Reservierten Viertels. Ré Soupault wußte nur wenig über das Leben der Frauen im Islam, bis sie in der Straße vor ihrem Haus eine junge Frau sieht, einen Säugling auf dem Arm. Vom Ehemann verstoßen, da sie ihm ein Mädchen geboren hatte, die Familie unauffindbar, sollte sie in das für alleinstehende Frauen „reservierte Viertel“ gebracht werden. Dies forderte auch lauthals die nur aus Männern bestehende Gruppe, die sich um die Frau versammelte hatte. „Ein hinzugekommener Polizist warnte mich, mich in die Angelegenheiten der Mohammedaner einzumischen, das könnte gefährlich werden. Aber ich erreichte schließlich dennoch, daß der Ehemann kam und seine Frau wieder mitnahm. Ihr Problem war damit wahrscheinlich nur vorübergehend gelöst. Und sie war ja kein Einzelfall. Als Frau erschien mir diese Welt unbegreiflich, in der der Mann in voller Übereinstimmung mit den Gesetzen willkürlich über das Schicksal der Frau entscheiden konnte.“ Der Zutritt zum Reservierten Viertel, in dem Prostitution zwangsläufig eine der wenigen Überlebensquellen blieb, war eigentlich nur Muslimen gestattet, das Fotografieren streng verboten. Ré Soupault hat den Scheik um seine Erlaubnis bitten müssen, bevor sie sich in Begleitung eines Polizisten in die Gassen und Häuser einer Welt begibt, in der die Märchen aus Tausendundeiner Nacht ihren Zauber verloren haben. Die Fassungslosigkeit vor der Realität einer Gesellschaft hat sie in dieses Viertel geführt, ihre Kamera scheint eher dem Wunsch zu folgen, auf die Frauen dieses totgeschwiegenen Ortes zuzugehen und einen, wenn auch schweigsamen Kontakt zu knüpfen. Blicke aus zwei Welten kreuzen sich in dunklen Türeingängen, spärlich eingerichteten Räumen, hinter manchmal vergitterten Fenstern. Verwelkte und junge Gesichter, geschminkt oder ärmlich gekleidet, die Frauen scheinen in ihrer üblichen Position zu verharren, abwartend, regungslos. Aber für einen kurzen Moment verliert sich ihr Blick nicht auf den sie umgebenden Mauern, findet einen Widerhall in dem stummen Zwiegespräch mit einer Fremden. Ohne ein Wort mit den Frauen wechseln zu können, gibt sie ihnen eine Stimme und zeigt sie mit einer Würde, die die traditionelle islamische Gesellschaft ihnen verweigert hatte.

Die Flucht vor den heranrückenden deutschen Soldaten in Tunesien Ende 1942 beendet abrupt Ré Soupaults Laufbahn als Fotografin. Sie muß ihr gesamtes Fotomaterial zurücklassen, und in den folgenden Jahren, die sie in Nord- und Südamerika verbringt, ist das Geld zu knapp, um sich neues zu verschaffen. Einer tunesischen Freundin, die nach dem Ende des Krieges in den Souks einen Karton mit all ihren Negativen entdeckt, ist es zu verdanken, daß ihre Fotoarbeiten heute noch erhalten sind.

Seit sie nach ihrer Rückkehr nach Frankreich 1946 als Übersetzerin und literarische Essayistin eine neue Herausforderung gefunden hat, wird die Fotografie endgültig zu einem Kapitel der Vergangenheit.

Ob sie dies bedauert? „Die Fotografie aufzugeben, war vielleicht ein Verlust, aber wichtiger war das Gefühl, wenn man einmal schwimmen gelernt hat, wieder die Möglichkeit offen zu haben, weit ins Meer hinausschwimmen zu können.“

Fotobände von Ré Soupault, erschienen im Verlag Wunderhorn, Heidelberg:

„Paris 1934 bis 1938“.

„Eine Frau allein gehört allen. Fotos aus dem Reservierten Viertel in Tunis“.

* „Paris 1934 bis 1938“, bis 25.Januar 1995 im Goethe-Institut in Paris, anschließend im Institut Français in Leipzig.