„Ich konnte einfach nicht mehr“

Sie werden eingesperrt, geschlagen, zwangsverheiratet oder mißbraucht – immer mehr Mädchen flüchten ins autonome Mädchenhaus / Die Hälfte sind junge Immigrantinnen / Kapazitäten reichen nicht  ■ Von Patricia Pantel

Wenn Nilgün (Name von der Redaktion geändert) ihre Geschichte erzählt, bekommt sie eine ganz leise Stimme. „Mein Vater hat mich oft mit dem Gürtel geschlagen, es gab immer Streß zuHause, ich durfte nichts – keine Musik hören, nicht telefonieren, nicht mit meinen Freundinnen sprechen“, erzählt das türkische Mädchen mit den großen, dunklen Augen, „ich konnte irgendwann einfach nicht mehr.“

Nilgün ist siebzehn. Ihre Lieblingsfarbe ist schwarz, „ich mag die Traurigkeit der Farbe“, sagt sie. Jahrelang hat sie die Gewalt und den psychischen Druck zu Hause ertragen. Sie wollte immer, daß es „schön ist und alle lachen“, aber es gab nichts zu lachen. Als ihr Vater sie mal wieder grün und blau geprügelt hat, ist sie abgehauen. Die ersten zwei Monate hat sie auf der Straße gelebt und in Treppenfluren geschlafen. „Das war total hart. Ich habe viel erlebt auf der Straße. Ein Typ wollte, daß ich auf den Strich gehe“, erinnert sie sich, „aber das Schlimmste war, als mir eine Freundin erzählte, daß meine Eltern froh waren, als ich weg bin.“ Beim Erzählen treten ihr die Tränen ihr in die Augen. „Die haben mich sowieso nie gewollt.“

Als Baby schickten ihre Eltern sie in die Türkei zu einer Tante, mit fünf kam sie nach Deutschland zurück, aber „die wollten mich nicht, die wollten am liebsten, daß ich sterbe“. Nach acht Wochen auf der Straße war Nilgün völlig fertig. Ihren siebzehnten Geburtstag hat sie alleine auf der Straße verbracht, seitdem haßt sie Geburtstage. „Ich hatte das Gefühl zu ersticken und wollte alles aufgeben.“ Dann hat sie vom Mädchenhaus gehört, und sie hatte Glück: Es war noch ein Bett frei. Seit drei Monaten ist sie jetzt dort.

Das autonome Mädchenhaus in Berlin gibt es seit 1990. Unter dem rot-grünen Senat hatte das schon lange von der Frauenbewegung geforderte Projekt endlich eine Chance. „Es gibt einfach zuwenig Einrichtungen speziell für Mädchen, die Schutz suchen“, sagt Tina, eine Sozialarbeiterin, die schon seit Anfang an im Mädchenhaus arbeitet. „In ganz Berlin gibt es nur etwa 25 Plätze.“

Im Mädchenhaus können 14- bis 21jährige eine erste Zuflucht finden. Sie flüchten von zu Hause, weil sie geschlagen und unterdrückt werden, weil ihre Eltern Alkoholiker sind, weil sie sexuell mißhandelt werden, auf den Strich gehen müssen oder zu Pornographie gezwungen werden. „Manche halten seit Jahren massive Gewalt aus“, erzählt Tina, „haben immer den Mund gehalten, aber irgendwann können die einfach nicht mehr.“

Die Betreuerinnen sind oft die ersten Menschen, mit denen die mißhandelten Mädchen über ihre Probleme sprechen können, die ihnen zuhören und sie ernst nehmen. „Manche Geschichten sind so schrecklich, daß ich die gar nicht weitererzählen, sondern selber nur vergessen will“, sagt Gudrun, die erst seit einem dreiviertel Jahr im Mädchenhaus arbeitet. „Mir geht vieles an die Nieren.“ Um nicht selber eine Krise zu bekommen, gehen die Betreuerinnen alle zwei Wochen zur Supervision.

Jeweils acht Mädchen können im Mädchenhaus unterkommen, viel zuwenig, denn „im Winter rufen manchmal zwei bis drei Mädchen pro Tag an, die Hilfe brauchen“, so Gudrun. „Wir können dann nur sagen, wo sie sich sonst noch melden können. Es tut weh, wenn wir nicht helfen können.“

Pro Jahr durchlaufen etwa 60 Mädchen das Haus, bleiben können sie nur vorrübergehend. Offiziell vier Wochen, aber das ist oft viel zuwenig Zeit, um eine Nachfolgeeinrichtung zu finden. Und so bleiben die Mädchen oft mehrere Monate, bis eine WG, eine Wohnung, ein Heimplatz gefunden ist.

Von den sieben Sozialarbeiterinnen im Mädchenhaus ist immer eine rund um die Uhr da. Der Alltag wird von den Mädchen allein geregelt. Abwaschen, Einkaufen, Putzen – alles muß selber organisiert werden. Oberstes Gebot ist, daß sich alle an die Regeln halten: keine Drogen, keine Gewalt, kein Besuch, und die Adresse muß geheim bleiben.

Semra (Name von der Redaktion geändert) ist seit einem Monat im Mädchenhaus. Die junge Türkin ist aus einer Kleinstadt in Westdeutschland abgehauen, weil sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten hat. Ihr Vater ist Alkoholiker. „Er hat immer meine Mutter geschlagen, aber oft haben wir Kinder auch was abbekommen.“ Eben hat das große, schlanke Mädchen noch fröhlich gelacht, aber wenn sie von früher erzählt, dann stirbt das Lachen; sie bekommt einen harten Zug um den Mund.

In der Familie war die 19jährige für alles verantwortlich – für die Mutter, die Schwestern und den Haushalt. Wenn ihr Vater sie schlug, hat sie sich nie gewehrt, „er ist doch mein Vater und eine Autorität“. Nur wenn er ihre Schwestern oder die Mutter verprügelte, hat sie etwas gesagt. „Dafür gab‘s dann wieder ordentlich Dresche.“

Manchmal spricht sie über die Mißhandlungen wie übers Wetter, aber es ist ihr doch immer anzumerken, daß das Abtauchen in die Vergangenheit weh tut. „Irgendwann hat mein Vater mich dann so zusammengeschlagen, daß ich nicht mehr leben wollte.“ Semra hat versucht, sich selbst umzubringen, hat Tabletten und Reinigungsmittel geschluckt. Heute sagt sie, daß es eigentlich nicht ihre Absicht war zu sterben. „Ich wollte ein Zeichen setzten, ich wollte, daß sich was ändert.“ Sie wurde gerettet, aber geändert hat sich nichts.

Für den Vater war sie sowieso nur „eine Schlampe und das schwarze Schaf der Familie“. Semra hat versucht, mit ihm zu reden, „aber ich konnte nichts machen. Er ist ein Arschloch, und solche Typen ändern sich nicht.“ Sie hat ihn auch wegen Körperverletzung angezeigt. „Aber der Richter in Bayern hat nur gesagt: Was willst du eigentlich? Das ist doch normal bei euch, das gehört zu eurer Kultur.“ Danach hat Semra nur noch gewartet, bis sie mit ihrer Ausbildung als Kinderpflegerin fertig war. „Ich wollte wenigstens die Ausbildung zu Ende machen, damit ich nicht so einfach auf der Straße stehe.“ Nach den Prüfungen ist sie abgehauen. Erst mal zu einer Freundin nach Berlin. Aber nicht lange, und die Familie wußte, wo sie war und trommelte den ganzen Clan zusammen. „Die standen mit etwa zwanzig Mann bewaffnet vor der Tür“, erinnert sich Semra an den Abend. Noch heute träumt sie oft, daß sie erschossen wird.

Sie ist dann ins Mädchenhaus geflüchtet. Zwei der Schwestern sind mit ihr nach Berlin gegangen und im Augenblick bei „Wildwasser“, einer anderen Beratungsstelle für mißbrauchte Mädchen. Kontakt zu ihren Eltern hat sie nicht mehr. „Die denken eh, daß ich 'ne Nutte bin und auf den Strich gehe“, sagt sie bitter. Aber wenn sie davon erzählt, wie sie ihren Vater früher vergötterte und er ihr Vorbild war, dann ist ihr die Sehnsucht nach einer heilen Familie anzumerken. „Ich könnte ihm auch verzeihen“, sagt sie nachdenklich, „aber vergessen kann ich nie.“ Zurück will sie auf keinen Fall.

Etwa fünfzig Prozent der Mädchen im Mädchenhaus sind Immigrantinnen. Semra und Nilgün waren die einzigen, die bereit waren, sich interviewen zu lassen. Ihre Geschichten unterscheiden sich in vielen Punkten nicht von denen der deutschen Mädchen. Gewalt ist immer mit im Spiel. „Aber gerade bei den Türkinnen gibt es immer wieder bestimmte Probleme“, sagt Betreuerin Tina. „Oft werden sie eingesperrt, dürfen immer weniger, je älter sie werden, sollen zwangsverheiratet werden oder werden geschlagen.“ Die übrigen Mädchen kommen etwa zur Hälfte aus Ost und West. „Gerade nach dem Mauerfall hatten wir einen richtigen Boom von Mädchen aus dem Osten“, erinnert sich Tina, „sexueller Mißbrauch war in der DDR ein totales Tabuthema. Da ist dann nach der Wende viel hochgekommen.“

Oft erzählen die Mädchen erst eher allgemein, daß es Streß zu Hause gibt, daß sie geschlagen werden oder ihre Eltern alkoholabhängig sind. „Aber in vielen Fällen stellt sich bei Gesprächen dann heraus, daß sie auch sexuell mißbraucht wurden“, erzählt Gudrun. Nach Angaben der Mitarbeiterinnen sind rund 70 Prozent der Mädchen, die ins Mädchenhaus kommen, sexuell mißbraucht worden. Hier können sie dann erst einmal durchatmen. „Wir lassen ihnen Zeit“, sagt Tina, „die einen erzählen früher, die anderen später, was ihnen passiert ist.“

Sie sind oft physisch und psychisch total fertig, wenn sie kommen. Tina hat auch schon Selbstmordversuche im Mädchenhaus erlebt. „Viele Mädchen tun sich selber weh. Sie wollen, daß Blut fließt, um zu spüren, daß sie noch leben.“

Für die Mädchen sind die Betreuerinnen alle „Ersatzmuttis“. Auch für Nilgün: „Ich habe nie Liebe bekommen von meinen Eltern, aber die Betreuerinnen waren zu mir wie Eltern.“ Es war für sie völlig neu, daß jemand für sie da war und sich um sie kümmerte. Das Früher will sie erst einmal vergessen. Nilgün hat die Schule gewechselt, möchte gerne Altenpflegerin werden und hat wieder Pläne für die Zukunft. „Das Mädchenhaus hat mir viel Mut gegeben“, strahlt sie ihre „Ersatzmutter“ Tina an. „Seit ich von zu Hause weggegangen bin, fühle ich mich wie neugeboren.“ In zwei Wochen zieht sie in eine WG. „Ich freue mich, aber ich bin auch ein bißchen traurig, wegzugehen“, sagt sie. „Im Mädchenhaus habe ich Lachen gelernt.“

Semra möchte am liebsten ihren Geburtstag auf den Tag ihrer Flucht verlegen. „Das ist der Tag, an dem ich wiedergeboren wurde.“ Sie hofft, daß ihre Flucht anderen Mädchen zeigt, daß man nicht alles ertragen muß, sondern auch ausbrechen kann. „Es tut immer noch weh in mir drin, und manchmal möchte ich alles einfach nur vergessen“, sagt sie, „aber oft könnte ich auch stundenlang darüber reden.“ Das tut sie dann auch – mit den Betreuerinnen, mit den anderen Mädchen und vor allem nachts mit Nilgün, mit der sie im Mädchenhaus ein Zimmer teilt. „Ich habe immer gedacht, nur mir geht es so schlecht, aber wenn ich dann höre, was die anderen Mädchen erlebt haben, daß die sexuell mißbraucht wurden und so, dann erleichtert das“, sagt Semra, und ihr Gesicht wird wieder ernst. „Man erkennt dann auch, daß man nicht selber Schuld hat, wie die Familie immer behauptet, sondern, daß die Eltern oder der Vater die Schweine sind.“

Sie macht im Moment in der Abendschule die mittlere Reife nach und möchte dann eine Ausbildung als Erzieherin beginnen. Später möchte sie gerne aufs Land ziehen und vielleicht irgendwo auch ein Mädchenhaus aufmachen. Und auch wenn sie für ihren Vater „gestorben ist“, hat sie den Wunsch, „ihm zu beweisen, daß aus mir keine Schlampe, sondern ein anständiges Mädchen wird“.

Unter dem Titel „Gewalt gegen Mädchen und junge Frauen – Wege des Ausbruchs“ gibt es eine vom Autonomen Mädchenhaus, dem Amt für Frauen und dem Kunstamt Schöneberg organisierte Ausstellung vom 9. Oktober bis 6. November 1994 immer Dienstag bis Samstag von 10 bis 18 Uhr im Rathaus Schöneberg, Ausstellungshalle, John-F.-Kennedy-Platz, 10820 Berlin