Wo ist die Grenze?

■ betr.: Anzeige: „Berliner Appell“, Kommentar: „Seltsame Bettge nossen“, taz vom 28. 9. 94

[...] In der Anzeige wird in demagogischer Manier mit der Totalitarismus-Doktrin, die seit Jahr und Tag als Knüppel gegen linke Kräfte gebraucht wird, die Gleichsetzung von links und rechts betrieben. [...] Bezeichnend ist auch die Ablehnung eines von allen demokratischen Kräften anzustrebenden antifaschistischen Konsenses.

Wenn in dem Appell davon die Rede ist, Vergangenheitsbewältigung der alten BRD sei notwendig, so werden hier Parolen aus der Mottenkiste des Kalten Krieges wieder hervorgekramt, denn welche Alternative zu einer Politik der Achtung und gegenseitigen Anerkennung hätte es geben sollen? Das sollten sich vor allem die Unterzeichner aus dem Lager der DDR-Bürgerbewegung fragen, denn gerade sie waren es, denen diese Politik zugute kam.

Die taz, die einmal mit dem Anspruch angetreten ist, als links-alternative Tageszeitung ein Stück demokratische Erneuerung in diesem Land zu erkämpfen und repräsentieren, gibt mit dem Abdruck dieser Anzeige und dem dazugehörigen Kommentar von Christian Semler genau den Kräften ein Forum, die mitverantwortlich dafür sind, in diesem Land ein Klima der Fremdenfeindlichkeit und der Hatz auf ausländische Mitbürger zu schaffen. Der Kommentar von Herrn Semler relativiert zwar etwas, stößt aber ins gleiche Horn wie die Anzeige. Eine solche Anzeige sollte die taz-Redaktion doch besser der FAZ überlassen [...] Torsten Lipski,

Mönchengladbach

Was sollte bitte das? Wo wollt Ihr eigentlich die Grenze für Eure Werbekunden und -inhalte ziehen? Mit einem netten Kommentar kann man diese Sache auch nicht besser machen. Die von vielen Unterzeichnern hier und in ihrem politischen Alltag vertretenen Positionen unterscheiden sich um nichts von denen der Republikaner. Warum macht Ihr eigentlich für die keine Wahlwerbung? [...] M. Bialk, Nauort

Es ist keine neue – doch deswegen nicht weniger bestürzende – Erkenntnis mehr, daß „die“ gesellschaftliche Entwicklung von einem deutlichen Rechtsruck gekennzeichnet ist. Diese Rechtslastigkeit ist beileibe nicht nur dem tumben Volke, dem Pöbel – oder welche Entlastungszeugen man auch sonst heranzuziehen pflegt – zuzuschreiben, sondern zeigt sich unübersehbar in der politischen Klasse und Elite dieses Landes. Auch die sich öffentlich äußernde „Intelligenz“ ist in der Hauptsache längst nicht mehr auf linksliberaler Seite zu verorten, sondern zunehmend rechter Hand besetzt.

Angesichts dessen könnte man – und das wäre noch sehr wohlwollend – die im „Berliner Appell“ erhobene Klage über eine Ausgrenzung von und gar „Hexenjagd auf Konservative und demokratische Rechte“ als Ausdruck einer absolut verfehlten Zeitdiagnose oder grenzenloser politischer Naivität deuten. Ähnlich könnte dem vorfindbaren Bekenntnis zu einem Pluralismus für „linke und rechte Demokraten gleichermaßen“ eine gewisse Herzigkeit beschieden werden.

Der Text selbst ist allerdings ein Dokument dafür, daß eine solche politische Gleichung ohne Berücksichtigung des gesellschaftlichen Kontextes in fataler Weise an Urteilskraft einbüßt und somit nur verschleiernd wirkt. Mehr als Irritation erzeugt schließlich die – wie es heißt – „entschieden(e)“ Wendung gegen behauptete Bestrebungen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung durch eine „,antifaschistisch-demokratische‘“ Ordnung „zu ersetzen“. Ungeachtet der damit verbundenen Anspielung auf DDR-Vergangenheit und PDS-Gegenwart (die man in der Tat nicht mögen muß), sind dergleichen Äußerungen in ihrer politischen Semantik alarmierend: Ist Freiheit ohne einen gesellschaftlich verankerten Antifaschismus überhaupt denkbar? Ist Demokratie ohne Antifaschismus nicht nur bloße Rhetorik? Die im „Berliner Appell“ erklärte Abgrenzung von Antifaschismus und das damit verbundene Gegeneinanderausspielen von Freiheit, Demokratie und Antifaschismus ist skandalös. Wir finden es untragbar, daß die taz sich als Forum für eine solche Anzeige hergibt. Angelika Poferl, Reiner Keller,

München

[...] Die „Neue Rechte“ hat es sich unter anderem zum Ziel gesetzt, faschistische Theorien wieder salonfähig zu machen und in bürgerliche Kreise zu tragen. Das wollen sie erreichen, indem sie diese unauffälliger verpacken, sich in bestimmten Punkten Unterstützer aus dem bürgerlichen bis liberalen Spektrum suchen, sich demokratisch geben und Organisationen jeder politischen Richtung unterwandern und indoktrinieren.

Die taz gibt sich dazu her, den demagogischen „Appell“ abzudrucken, und bereitet den Aufbereitern faschistischer Ideologie damit einen ungeheuren Erfolg: die „alternative“ taz druckt ihren Aufruf ab, der sich praktisch gegen alle linken Menschen richtet. Es wird behauptet, daß Rechte einer Ausgrenzung und Repression zum Opfer fallen würden, während Linke tun und lassen könnten, was sie wollen. Wieviel davon wahr ist, wissen wir alle ganz gut. Aber wenn man etwas nur oft genug sagt, bleibt schon irgendwas hängen, das ist ihre Strategie. An dem Erfolg der Wegbereiter kann auch ein Kommentar, der versucht den „Appell“ anzukratzen und lächerlich zu machen, nicht viel ändern. [...] Stefan Jakob, Berlin

[...] Bei der Anzeige glaubte ich beim Lesen des ersten Satzes „Vier Jahre nach der Wiedervereinigung erlebt der Sozialismus in Deutschland eine Wiederkehr“ (schön wär's!) noch an eine Satire oder einen Titanic-Fake o. ä. Beim weiteren Lesen wurde mir klar, daß dies leider nicht der Fall war – die taz, mit dem Selbstverständnis einer linken Alternativpresse, druckt Pamphlete rechtskonservativer bis nationalistischer Vereinigungen und einen Tag später eine Werbeanzeige für ein Buch mit Beiträgen ebensolcher Autoren ab.

Ich finde es recht dreist – oder gedankenlos? – von Euch, einen Werbetext abzudrucken, in dem Personen wie Heinrich Lummer, Heinz Klaus Mertes, Rainer Zitelmann, Alfred Dregger und andere, die ich nicht kenne, bei deren Funktionsbezeichnungen die politischen Intentionen aber eindeutig sind, herumjammern, auf sie – „Konservative und demokratische Rechte“ – würde eine „Hexenjagd“ betrieben, und die gegen eine „antifaschistisch-demokratische Ordnung“ polemisieren. Hier ist die Rede von einer „Rückkehr zum antitotalitären Konsens“, der für die Konservativen noch nie galt, was die Nähe zu rechtsextremistischen Gruppen betraf – siehe Lummer, der sich vor nicht allzu langer Zeit für eine Zusammenarbeit mit den „Republikanern“ aussprach. [...]

Einerseits bekämpft Ihr publizistisch rechtskonservative Intellektuelle wie Zitelmann und nationalistische Politiker wie Lummer, andererseits druckt Ihr deren Glaubensbekenntnisse ab. Je mehr ich darüber nachdenke, desto schlimmer finde ich den Abdruck dieser Anzeige. [...] Christian Clément, Hamburg

[...] 1. Im Zusammenhang mit der massiven PDS-Hetze-Verunglimpfung-Ausgrenzung durch CDU/CSU und SPD, aber auch durch Bündnis 90/Grüne (mir aus ihrer eigenen Geschichte und auch taktisch völlig unverständlich) ziehen derartige taz-Werbungen gewollt oder ungewollt am selben Strang. Das ist doch gar keine Art der politischen Auseinandersetzung.

2. Eine drittel Seite bester taz- Fläche, verkauft an Herbert Fleißner, Rainer Zitelmann und an eine Menge CDU-Leute, die natürlich nicht faschistisch sind, die aber massig andere Medien haben und besitzen. (Berlusconi läßt grüßen.) Da ist das angeblich „linke Medienkartell“, wozu sie die taz zählen und gegen das diese Leute hetzen, verschwindend klein. [...]

3. Unter der geklauten Überschrift werden Tatsachen verdreht, eine beliebte Methode des Fleißner-Zitelmann-Konsortiums: „Das Schreckgespenst des Sozialismus steht wieder vor der Tür und bedroht uns alle.“ Vergangenheitsbewältigung heißt nicht NS (diese Episode haben die Herren längst hinter sich gelassen), Vergangenheitsbewältigung meint „SED, die verharmlost und schöngefärbt wird“. In Deutschland soll ein „antitotalitärerer Konsens“ in Gefahr sein!? Wo nichts war, kann nichts verschwinden. Und immer wieder böse, böse PDS. Und die armen Konservativen werden ausgegrenzt und in die Nähe von Rechtsextremisten gerückt – als hätten sie sich da nicht selber hingesetzt. Und natürlich ist die FDGO in Gefahr, diesmal durch eine antifaschistisch-demokratische ersetzt zu werden. Schön wär's. Regina Meyer,

Dorothee Schroeder-Thelen,

LAURA-Frauen-u.-Kinder-

buchladen, Göttingen

[...] In maßloser Verkehrung der Verhältnisse unterstellen die UnterzeichnerInnen eine „Hexenjagd“ auf Konservative und „demokratische Rechte“ und warnen vor einer „antifaschistiscsh-demokratischen“ Ordnung. „Wehret den Anfängen“, setzt die taz in ihrem Auftrag, während auf der gegenüberliegenden Seite berichtet wird, daß sich von den 15 ZeugInnen beim Mordversuch an Martin Agyare immer noch keine/r gemeldet hat.

Die UnterzeichnerInnen – u.a. keine Geringeren als Freya Klier, Martin Kempowski, Klaus Rainer Röhl, Sarah Kirsch und Wolfgang Templin – sollen, bitte schön, mal erklären, was sie unter „demokratischen Rechten“ verstehen. Selbst die NeubürgerInnen dieses niemals antifaschistisch gewesenen Staates müßten eigentlich schon gemerkt haben, daß das Wesen von Rechten gerade in der Geringschätzung von Demokratie liegt. Und daß diese mit ihrem „demokratischen“ Rassismus die Lunte für die täglichen Brandanschläge gelegt haben. [...] Erica Fischer, Berlin

[...] Nicht nur daß Ihr einem Spektrum vom rechten CDU/FDP- Rand über mentale Vereinigungsverlierer wie Templin bis hin zu den intellektuellen Edel-Faschisten von Criticon Raum für eine Anzeige gebt. Dafür alleine gibt's schon keine Rechtfertigung. Aber daß Ihr dann auch noch zulaßt, daß in dieser Anzeige von einer „Wiederkehr des Sozialismus in Deutschland“ geschwafelt wird (das sollte als Drohung gemeint sein!) und gleichzeitig noch dem Antifaschismus zugeschoben wird, eine Hexenjagd gegen sogenannte „demokratische Rechte“ (das sind wohl die mit den Krokodilstränen beim Brand von Asylbewerberheimen) zu inszenieren, ist einfach unglaublich. Niedermachen von Antifaschismus, Gleichsetzung von Faschismus und Stalinismus – Ihr scheint wirklich alles zu drucken, wenn es nur Kohle bringt. Die letzte Konsequenz wäre allerdings noch der Abdruck einer Wahlanzeige der „demokratischen Rechten“. Die Republikaner werden's Euch danken. Wolfgang Lippel, Nienburg

[...] Antifaschismus, also kritische Auseinandersetzung mit faschistischen Ideologien der Vergangenheit und der Gegenwart, soll nach dem Willen der Unterzeichner wohl genauso unterdrückt werden, wie aus anderen rechten Kreisen die Verbrechen der Nazidiktatur geleugnet werden. [...] Christoph Becker, München

[...] Was auf den ersten Blick als eine spontane Reaktion auf den „brutalen Mordanschlag auf einen 25jährigen Ghanaer“ (taz gleichen Datums, gegenüberliegende Seite) sein könnte, entpuppt sich als unverhohlene Kampfansage gegen „antifaschistische demokratische“ Ideen, die als eine Gefährdung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eingestuft werden. Wie steht Ihr als Redakteure und Redakteurinnen der taz zum Wortlaut dieser Anzeige? Wie ist der Wortlaut der Anzeige in Einklang zu bringen mit Euren journalistischen Bemühungen?

[...] Ich fordere die Redaktion der taz auf, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob derartige Anzeigen in der taz auch künftig Platz finden sollen. Es geht um die Integrität und Glaubwürdigkeit der taz. Marcus Paetzold, Regensburg

Sollte uns die in der taz erschienene Anzeige „Berliner Appell: Wehret den Anfängen!“ demonstrieren, was „der Feind“ denkt? Ich denke nicht, daß dies nötig ist: An PDS-feindlicher Propaganda und Rückbeziehung auf konservative Werte mangelt es gerade zur Zeit in den Medien wohl eher nicht. Über solche Anzeigen an Geld zu kommen bzw. eine linke Zeitung zu finanzieren, betrachte ich, auch wenn es pathetisch klingt, als moralisch verwerflich. [...] Andrea Liesner, Wuppertal

Seit wann ist die taz dabei, ein Sprachrohr der Rechten zu werden? Bei den Unterzeichnern war ja nicht mal ein SPDler dabei. Und dann finde ich in der Wahrheit auch noch in der „Gurke des Tages“, daß Ihr Euch darüber mokiert, daß L'Unita ihren Lesern das Evangelium unterbreitet. Macht nur weiter so, wenn Ihr Eure Leserschaft vergraulen wollt! Lothar Döpfer, Kalchreuth

„Berliner Appell: Wehret den Anfängen!“ steht mit großen Buchstaben über der Anzeige. Dieser Satz ist eingängig, gelle? Ihr kennt ihn auch, Antifa-Wortschatz. Da scheint ein gewisser Mechanismus eingesetzt zu haben, man sieht die Überschrift, KLACK!, und sie ist drin. Oder habt Ihr das Geld wirklich so nötig? Gibt es eine Regelung, nach der Appelle abgedruckt werden müssen? Oder ist die Überschrift auf der Seite 4 unten („Juso-Chef bald CDU-Ehrenmitglied“) nicht ironisch gemeint, sondern ein taz-Interninfo aus neuen politischen Wurzeln?

Daß Ihr zunehmend hektischer gegen die PDS anschreibt, entgegen eigener Empfehlung, dieses Thema nicht hochzudiskutieren, ist eh schon auffallend. Aber in eine solche Front sich einzureihen? Paßt irgendwie nicht zur taz. Doch gepennt? Hoffentlich. Guten Morgen! Arnd Rüttger, Bamberg

[...] Wer die Autorenliste des Buchs „Die selbstbewußte Nation“ liest (s. taz-Anzeige „Die ,Neunundachtziger‘ sind da“, vom 29.9.), findet schnell ihre fast vollständige Übereinstimmung mit den Erstunterzeichnern des „Berliner Appells“, dessen historische Lüge über den „antitotalitären Konsens, auf dem unsere Demokratie beruht“ und Gleichsetzung einer „westdeutschen Vergangenheitsbewältigung“ mit „Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur“ seine Verfasser eindeutig zu den sogenannten geistigen Brandstiftern zählen läßt. Nur nebenbei sei erwähnt, daß Axel Springer mit 50 Prozent an der Gesellschaft Ullstein-Langen-Müller beteiligt ist. In Italien hat ein gewisser Berlusconi bewiesen, auf welchem Weg moderne Politik erfolgreich gemacht wird.[...] M. Funk, Saarbrücken

Na, Ihr traut Euch ja was, liebe Titanic-Leut', die Anzeige „Berliner Appell“ ist wohl Euer geschickt getarnter Wahlkampfbeitrag in der taz? Was hab' ich gelacht, die Unterzeichnenden hoffentlich auch! Außer Sarah Kirsch, aber die versteht anscheinend keinen Spaß. M. Schindler, Berlin

[...] Mit dieser Veröffentlichung holt die Rechte zum populistischen Schlag gegen die linke Intelligenz aus. Die „rote Gefahr“ wird wieder beschworen, und die Menschen werden wieder den rechten Polemiken Glauben schenken. Doch ist es nachvollziehbar, wo all die Damen und Herren Appellierer den Sozialismus ausmachen? Wo ist der Sozialismus? Steht er vor der deutschen Grenze, und keiner merkt es?

Ziel der neuen deutschnationalen Kampagne ist die Spaltung der Linken, ihre Zerstörung durch infiltriertes Totdiskutieren und Mißtrauen der Bevölkerung gegenüber jeglicher emanzipatorischer Reformpolitik. Ein geschickter Schachzug vor den Bundestagswahlen. Doch wird sich auch, glaube ich, die Heuchelei und Vernebelungstaktik der deutschen Rechten längere Zeit auf den allgemeinen politischen Diskurs in Deutschland auswirken.

[...] Die noch existierende linke Intelligenz sollte die verschiedenen Institutionen unserer Medienlandschaft nutzen und endlich aus ihrem Tiefschlaf erwachen. Eine von den Menschen nachvollziehbare Dekonstruktion der herrschenden konservativen Ideologien und Systeme muß erfolgen. Wir dürfen uns nicht mehr von rechten ewiggestrigen Apologeten einschüchtern lassen. [...] Sven Maier, Köln

Das wirklich seltsame an dem angesichts der drohenden Roten Flut jammernden Unterzeichnern des „Berliner Appells“ ist, daß sie einerseits beklagen, daß „konservative Intellektuelle, Journalisten und Politiker zunehmend ausgegrenzt und in die Nähe von Rechtsradikalen gerückt“ werden; andererseits aber Zitelmann und Co zusammen mit ja nun eindeutig rechtsradikalen wie dem Herausgeber des neurechten Criticons von Schrenck-Notzing zusammen Appelle unterschreiben. Wird hier in die Nähe gerückt oder gibt man sich selbst dorthin? Lars aus Hannover