Mehr Kränze auf dem Grab als Kaiser Wilhelm

■ Serie: 100 Jahre Frauenbewegung in Berlin (erste Folge): Agnes Wabnitz, die sich für die Textilarbeiterinnen engagierte, ist heute fast völlig vergessen

Preisfrage: Auf wessen Grab wurden Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland die meisten Kränze niedergelegt? Auf dem Grab von Moltke oder Bismarck oder einem Dichterfürst? Alles falsch! Es war das Grab von Arbeiterführerin Agnes Wabnitz, die vor genau 100 Jahren auf dem Friedhof der freireligiösen Gemeinde in der Pappelallee am Prenzlauer Berg bestattet wurde. 634 Kränze waren es genau und damit 80 mehr als beim Begräbnis Kaiser Wilhelms des I., vermerkte der damalige Polizeibericht. Heute existiert nicht einmal ein Foto von ihr.

1842 in gutbürgerlichem Hause in Schlesien aufgewachsen, mußte sich Agnes Wabnitz nach dem Tode des Vaters als Hauslehrerin verdingen. Da sie aber stets aufmüpfig war und sich wiederholt mit dem Dienstpersonal solidarisierte, flog sie aus den Hauslehrerinnenstellen schnell wieder raus. So zog sie Anfang der siebziger Jahre zu ihrem Bruder in den Prenzlauer Berg und setzte, als dieser aufgrund seiner Aktivitäten als SPD-Funktionär untertauchen mußte, dessen politische Arbeit fort. Sie gründete mehrere Frauenvereine – was verboten war – und trat bei politischen Veranstaltungen als Rednerin auf. Die meisten Frauenvereine, denen es vor allem um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen ging, wurden nach zwei, drei Monaten, wenn die Polizei von ihrer Existenz Wind bekommen hatte, wieder aufgelöst. Kurze Zeit später tauchten sie dann unter neuem Namen wieder auf. Mit am längsten hielt sich der von Agnes Wabnitz gegründete Verband der Mantelnäherinnen, der in seiner knapp halbjährigen Geschichte über 1.000 Mitfrauen hatte. Die illegale Mitgliedschaft im Mantelnäherinnenverein brachte Agnes Wabnitz allerdings eine sechsmonatige Haftstrafe ein, der sie sich durch Hungerstreik zu entziehen suchte. Daraufhin landete sie in der Irrenanstalt, aus der sie nur durch vehementen Protest ihrer GenossInnen wieder entlassen wurde. Seither lief gegen sie ein Entmündigungsverfahren, und als sie einige Jahre später wieder zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, befürchtete sie daher, für immer hinter Gittern zu verschwinden. Demonstrativ brachte sie sich daraufhin im September 1894 auf dem Friedhof der Märzgefallenen um. Ihr Freitod löste eine ungeheure Signalwirkung aus. Aus dem ganzen Land wurden ArbeiterInnendelegationen nach Berlin zum Begräbnis geschickt. 600.000 Menschen sollen schließlich bei der Beerdidigung dabeigewesen sein, so viele, daß an diesem Tag der Prenzlauer Berg für Kutschen nicht mehr befahrbar war.

Daß sich Agnes Wabnitz im Verein der Mantelarbeiterinnen organisierte, war kein Zufall. DIe meisten Proletarierfrauen in Prenzlauer Berg waren nämlich nicht Fabrik-, sondern Heimarbeiterinnen, die für die damals prosperierende Konfektionsindustrie Kleidungsstücke anfertigten. Heimarbeit war Auftrags- und Saisonarbeit, die im Höchstfall sechs Mark die Woche einbrachte, wobei oft noch die 70 bis 200 Mark teuren Nähmaschinen beim Auftraggeber abgestottert werden mußten. So ist es auch kein Wunder, daß der größte Streik des ausgehenden 19. Jahrhunderts im Jahr 1896 der Streik der Heimarbeiterinnen der Konfektionsindustrie war, an dem sich 50.000 Menschen – zumeist Frauen – über vier Wochen beteiligten. Sie forderten feste Anstellung, höhere Löhne und Fabrik- statt Heimarbeit – Forderungen, auf die die Arbeitgeber pro forma eingingen, um sie kurze Zeit später zurückzunehmen. Damit war der Widerstand der Heimarbeiterinnen gebrochen, denn ein weiterer Streik war aus finanziellen Gründen nicht drin.

Während Rosa Luxemburg oder Clara Zetkin heute als die Protagonistinnen der frühen ArbeiterInnenbewegung gelten, hält die Geschichte für die zu ihrer Zeit ebenso bekannte wie für die Arbeiterbewegung bedeutende Agnes Wabnitz höchstens eine Fußnote bereit. Das mag mit ihrer publizistischen Abstinenz zusammenhängen: Im Gegensatz zu den bürgerlichen Intellektuellen Zetkin und Luxemburg hat Agnes Wabnitz keine theoretischen Schriften verfaßt. Warum aber der streitbaren und für ihre Zeit höchst unkonventionellen Frau von ihrer Biographin hauptsächlich Ordnungsliebe und ein vorbildlicher Lebenswandel bescheinigt und auf ihrem Grabstein an erster Stelle ihr Edelsinn und ihre Biederkeit hervorgehoben werden, bleibt einigermaßen rätselhaft. Dagmar Schediwy

Wird morgen fortgesetzt