„Vor Scham ins letzte Mauseloch verkrochen“

■ Selbsthilfe für Alkoholikerinnen: Die Therapeutische Arbeitsgemeinschaft ist eine reine Frauenberatungsstelle / Im Gegensatz zu Männern schämen sich viele Frauen ihrer Sucht

„Am Anfang war ich ja so was von verletzlich“, sagt Kerstin und deutet mit der rechten Hand auf ein Bild aus Wachsmalfarben an der Wand: ein kleiner gelber Kreis inmitten einer großen schwarzen Stacheldrahtumzäunung, die an den Rändern in feuerrote Farbe übergeht. „Das war in der ersten Phase meiner Trockenheit“, erläutert sie. „Da hatte ich das Gefühl, daß ich um mich eine dicke Grenze ziehen muß, um mein Innerstes zu schützen. Das Rote dagegen symbolisiert meine Lebendigkeit. Und in der Mitte ist ein Vulkan, hochexplosiv.“

Als die gelernte Krankenschwester dieses Bild vor einem Jahr in der themenzentrierten Malgruppe der T.A.G. anfertigte, hatte sie eine kurze, aber steile Trinkerinnenkarriere hinter sich. Das gleichzeitige Zusammentreffen dreier belastender Lebensereignisse im Oktober 1991 verkraftete sie nicht: Da war einmal der plötzliche Tod ihrer Mutter, dann die Trennung von ihrem langjährigen Freund und schließlich der Antritt einer Leitungsfunktion im Krankenhaus, in der sie unter einem ungeheuren Bewährungsdruck stand: „Ich bin nach Hause gekommen, als wäre irgend etwas über mir zusammengebrochen. Ich fühlte mich hohl, leer, verzweifelt, ausgebrannt.“ Bald konnte sie ihren Alltag nur noch mit Alkohol bewältigen. Am Schluß trank sie anderthalb Wochen in einem Stück.

Als sie zu schwach war, sich alleine Alkohol zu besorgen, klingelte sie an der Tür ihrer Wohnungsnachbarin und bat um Schnaps. So kam sie schließlich mit 2,6 Promille in die Krisenintervention, von da in die Entgiftung. Als sie dort zum ersten Mal Männer im Delirium sah und der Oberarzt ihr sagte: „Das sind Ihre Spiegelbilder!“ war das für sei ein „heilsamer Schock“. Seit dieser Zeit hat sich ihr Leben „wahnsinnig verändert“: „Ich habe mir eingestanden, daß ich nicht die perfekte Kerstin bin, die ich immer sein wollte.“

Durch ihre Erfahrungen in der Entgiftung wußte sie auch, daß sie nicht mit männlichen Alkoholikern zusammen in einer Gruppe sein wollte. Während sie sich „vor Scham am liebsten in ein Mauseloch verkrochen hätte“, protzten diese mit ihren Trinkmengen und „stiegen gleich nach dem Delirium wieder den Frauen nach“. So war sie froh, daß sie in der Therapeutischen Arbeitsgemeinschaft in der Schöneberger Merseburger Straße Gruppenangebote ausschließlich für Frauen fand. Als sehr angenehm hat auch die 46jährige Heidi das Gesprächsklima der T.A.G.- Selbsthilfegruppen im Vergleich zu gemischtgeschlechtlichen Alkoholiker-Selbsthilfegruppen erlebt. Dort werde auf das, was die/der andere sagt, oft relativ wenig Bezug genommen. Daß die 46jährige, deren Trinkgeschichte in engem Zusammenhang mit der extremen Gewalttätigkeit ihres ebenfalls alkoholabhängigen Vaters stand, sich schließlich unter drei möglichen Berliner Beratungsstellen für alkoholabhängige Frauen für die T.A.G. entschied, hängt auch mit dem starken Selbsthilfecharakter zusammen, den die Einrichtung im Vergleich zu anderen Projekten hat: „Hier kann ich selber was tun und aktiv werden“, war von Anfang an ihr Gefühl. Zwei- bis viermal in der Woche nimmt sie dafür den weiten weiten Weg von Falkensee nach Schöneberg in Kauf. Wie Kerstin besitzt sie einen Schlüssel, der ihr jederzeit Eintritt zur T.A.G. verschafft. Daß die T.A.G. überhaupt eine reine Frauenberatungsstelle wurde, ist nicht zuletzt dem Engagement der langjährigen Mitarbeiterin Uta Tröger zu verdanken, die die männlichen Mitglieder des ursprünglich gemischten Projekts von der Notwendigkeit einer Frauenberatungsstelle überzeugte. „Wir wollten einen Schutzraum für Frauen schaffen, in dem auch Frauen, die – zum Beispiel aufgrund sexueller Gewalterfahrungen – in gemischten Gruppen nicht zu reden wagen, sich öffnen können. Frauen sollten lernen, andere Frauen als ernsthafte Gesprächspartner wichtig zu nehmen“, umreißt sie ihre Motivation.

Nach der Eröffnung als Frauenprojekt im Januar 1991 stieg auch der Grad der Professionalisierung. Zu den überwiegend reinen Selbsthilfegruppen kamen therapeutische Gruppen zu bestimmten Schwerpunktthemen dazu. Dabei können die Frauen zwischen reinen Selbsthilfegruppen und Gruppen unter professioneller Leitung auch wechseln – je nachdem, wie es ihrer derzeitigen Situation entspricht.

Immer schon unter fachlicher Leitung standen neben der Einführungsgruppe die Gruppen für weibliche Angehörige von Alkoholabhängigen, für die die Diplom- Psychologin Barbara Helk zuständig ist. Dabei muß der Alkoholabhängige nicht zwangsläufig ein Mann, die Angehörige nicht selbstverständlich die Ehefrau sein. Wie zum Beispiel Ilona, die nach einer achtjährigen Beziehung mit einer lesbischen Partnerin in die Angehörigengruppe fand. Für sie war der Weg in die T.A.G. ganz selbstverständlich: „Ich lebe in Frauenbezügen, also habe ich mich an eine Frauenberatungsstelle gewandt.“ Auf die Auseinandersetzung mit männlichen Beratern und Trinkern hatte sie wenig Lust. Dort ist die Angehörige ihrer Meinung nach höchstens Beiwerk. „Hier dagegen“, sagt sie, „stehe ich im Mittelpunkt!“ Ob homo- oder heterosexuell – die Abhängigkeitshaltung sei ohnehin bei fast allen weiblichen Angehörigen von Suchtmittelabhängigen gleich: „Aufgrund der weiblichen Sozialisation bist du auf Selbstaufopferung geeicht.“ Co-Abhängigkeit wird von den T.A.G.-Mitarbeiterinnen daher auch nicht wie häufig in der Fachliteratur als Krankheit, sondern als Zuspitzung der normalen Frauenrolle verstanden. „Das ist der Unterschied zu anderen Suchteinrichtungen“, sagt Barbara Helk, „wir denken die gesellschaftlichen Strukturen immer mit.“ Dagmar Schediwy