4 Wochen Bolschewismus

■ Ernst Troeltschs Spektator-Briefe über die Fehlgeburt der Weimarer Republik

Im Oktober 1919 notiert Ernst Troeltsch als Chronist der Ereignisse im kriegs- und revolutionszerrütteten Deutschland den Verlauf einer politischen Reiseunterhaltung. Vier Wochen Bolschewismus werde man erleben, war sich die Gesellschaft im Waggonabteil einig, ehe die Monarchie wiederkommt. Andere wußten genau, daß die kommunistische Vierwochenperiode am 3. November in Halle beginnen werde.

Nichts schien mehr unmöglich, seitdem der Krieg verloren und die alte Staatsform durch die allseits ungeliebte und autoritätsschwache Demokratie ersetzt worden war. Auf der einen Seite braute sich die Weltrevolution und auf der anderen der Militärputsch zusammen, und beide drohten über der schwachen Mitte zusammenzuschlagen. Dort aber hatte der Religionsphilosoph und Publizist Ernst Troeltsch die Position des wachenden Beobachters eingenommen, des „Spektators“, wie er seine zweiwöchentlich von 1918 bis 1922 in der Zeitschrift Kunstwart abgedruckten Essays pseudonymisch unterzeichnete. Eine Auswahl dieser Aufsätze ist jetzt als Band der „Anderen Bibliothek“ erschienen, zusammengestellt und mit einem sachkundigen Nachwort versehen von Johann Hinrich Claussen.

Der zeitliche Abstand erlaubt nicht nur ein Urteil über Troeltschs Weitsichtigkeit, sondern auch über die Vergeblichkeit seiner Bemühungen, die politische Mitte im Interesse der Staatsraison zu stärken. Troeltsch (Jahrgang 1865) war von Hause aus kein begeisterter Republikaner. Aufgewachsen ist er in einem nationalliberalen Milieu. Er studierte evangelische Theologie und strebte eine akademische Karriere an. Nachdem er zwanzig Jahre lang Systematische Theologie in Heidelberg gelehrt hatte, wechselte er 1915 nach Berlin. Als Vertreter einer reformierten, der modernen Geschichtswissenschaft aufgeschlossenen Religionswissenschaft bleibt Troeltsch in seinem Fach weitgehend isoliert. Anregungen für die eigene Arbeit kommen von außen, etwa vom befreundeten Max Weber, später in Berlin auch vom Historiker Friedrich Meinecke.

Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs bejubelt Troeltsch ebenso wie die allermeisten seiner Hochschulkollegen, jedoch schon bald engagiert er sich für einen schnellen Friedensschluß, der die Verteilung von Rohstoffen und die Erschließung von Märkten im deutschen Sinne vertraglich regeln soll. Der Philosophieprofesser Troeltsch war beileibe kein Ideologe. Den Hintergrund des Krieges erkennt er nüchtern im ökonomischen Verteilungskampf. Als die Revolution ausbricht und die Republik ausgerufen wird, sieht er seine Aufgabe darin, den Staat in seinem Bestand zu erhalten, anstatt der Monarchie hinterherzutrauern. Zuallererst, schreibt er in einem seiner Spektator-Briefe, müsse man „die wirklichen Tatsachen und Möglichkeiten sehen, um dann auf dieser Grundlage die Ideen erst zu bilden“. Seine Essays im Kunstwart versteht der mittlerweile zum preußischen Unterstaatssekretär avancierte Troeltsch als „Briefe über die Demokratie an die Gebildeten unter ihren Verächtern“.

Der „Spektator“ ist stets gut informiert. Er profitiert von „Andeutungen eines französischen Herrn“, von „Informationen eines kundigen Amerikaners“ oder eines „vortrefflichen Nationalökonomen“. Tatsächlich hatte Troeltsch bereits während des Krieges Zugang zu einem Kreis um Hans Delbrück, der um sich die Spitzen von Industrie, Banken und Bürokratie versammelte. Als einer der ersten warnt Troeltsch schon im Juni 1921 vor der Gefahr des Faschismus. Er berichtet von einem Gespräch mit einem Großindustriellen, der mit Blick auf die Faschisten in Italien bemerkt, auch in Deutschland werde es nicht rein parlamentarisch zugehen.

An manchen Stellen in Spektators Briefen drängt sich jedoch der Eindruck auf, der Verfasser überschätze die Bedeutung seiner Kontakte als Urteilsgrundlage für die große Politik. Das klingt dann wichtigtuerisch und bisweilen, wo Privates und Politisches sich vermischen, auch unfreiwillig komisch. Zur Ermordung seines Freundes Walter Rathenau schreibt er: „Vor ein paar Tagen sagte er zu mir, er gehe nie ohne Waffe aus und rechne mit der Möglichkeit einer Ermordung! Wer wird der nächste sein? Und wie wird die Mark darauf reagieren?“

Interessanter als die ausholenden Betrachtungen zur aktuellen Lage im Lande und in der Welt sind die genauen Stimmungsbeobachtungen des Chronisten. „Man wundert sich, wenn man aus dem Haus geht, daß Häuser und Bäume noch stehen“, schreibt er über die Tage unmittelbar nach der Revolution, von deren Sieg er aus der Morgenzeitung erfährt. Beim Spaziergang im Grunewald beobachtet er: „Keine elegante Toilette, lauter Bürger, manche wohl absichtlich einfach angezogen. Alles etwas gedämpft wie Leute, deren Schicksal irgendwo weit in der Ferne entschieden wird, aber doch beruhigt und behaglich, daß es so gut abgegangen war. Auf allen Gesichtern stand geschrieben: Die Gehälter werden weiterbezahlt.“

Troeltsch hat weder das Scheitern der Weimarer Republik noch das Nazi-Regime miterlebt. Er ist schon 1923 gestorben und hatte daher auch keine Gelegenheit, seinen Spott über die eingangs erwähnte Reisegesellschaft zurückzunehmen: Nicht auf vier Wochen, sondern auf ganze vier Dekaden hat es der Kommunismus in Halle gebracht. Peter Walther

Ernst Troeltsch: „Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922“, Eichborn Verlag, 351 Seiten, geb., 48 DM