Von Ausrufezeichen zu Fragezeichen

Das Monatsmagazin „Lateinamerika-Nachrichten“ hat im Lauf von 21 Jahren Inhalt und Form verändert / Die Hoffnung auf ein sozialistisches Staatenmodell in Lateinamerika wurde aufgegeben  ■ Von Elke Eckert

Den fünften Stock im Hintergebäude vom Mehringhof erreicht der Besucher nur mit Müh und Not. Auf dem letzten Stockwerk vor dem Ziel, schon völlig außer Atem, weist ein Zettel freundlich darauf hin, daß es bis zum FDZL (Forschungs- und Dokumentationszentrum Lateinamerika) und den Lateinamerika-Nachrichten nur noch eine Treppe höher sei. Es ist Donnerstag, Punkt 19.30 Uhr. Eigentlich sollte hier jetzt die Redaktionskonferenz beginnen, doch der große Tisch im Gemeinschaftsraum ist aufgeräumt und leer. Nur Jürgen, der einzige bezahlte Mitarbeiter des Monatsmagazins, sitzt im Büro nebenan am Computer und versucht Informationen aus der Mailbox herauszulocken. Ein weiterer Mitarbeiter trudelt eine Viertelstunde später ein und schaut die Ablage an seinem Schreibtisch durch, um danach festzustellen, daß die meisten Unterlagen bereits im letzten Heft verarbeitet wurden. Nach und nach füllt sich der kleine Raum, an dessen Längswand sich die Hefte der vergangenen 21 Jahre stapeln.

Um 20.15 Uhr ist es endlich soweit, die Sitzung kann beginnen. Heute ist Redaktionsschluß, doch wie Jürgen später zugibt, drückt der Name bloß den Wunsch aus, daß bis zu diesem Donnerstag alle Artikel fertig sein sollten. Punkt eins auf der Tagesordnung: die Heftkritik zur letzten Ausgabe. Das Editorial, einziger Bestandteil des Heftes, der die Meinung der gesamten Redaktion und nicht nur des Autors widergeben soll, erfüllt nach Ansicht einiger genau diese Aufgabe nicht. Konsensbildung stellt redaktionell ein Problem dar, die Mitarbeitergeneration der neunziger Jahre wird nicht mehr durch eine gemeinsame Ideologie zusammengehalten. Jeder hat seine partikularen ideologischen Vorstellungen, die er zwar nicht bis aufs Messer verteidigt, die aber im Laufe der letzten Jahre dazu führten, daß alle Artikel nun mit Namen gekennzeichnet wurden. Kuba ist einer der Streitpunkte: Soll, darf, kann die Politik Kubas, in diesem Fall der Umgang mit Schwulen auf der sozialistischen Hochburg, kritisiert werden, und welchen Informationsquellen über Kuba kann getraut werden? Im Blatt finden diese Auseinandersetzungen kaum statt, die Konferenz dient als Ventil.

„Die Diskussion hier war noch harmlos“, umschreibt Jürgen seinen Eindruck. „Ganz zu Anfang, in den Siebzigern, gab es hier regelrechte Flügelkämpfe, heute gehen die Leute dagegen richtig nett miteinander um“, sinniert er über die Nachwehen der 68er-Generation, die 1973 zur Geburt der Lateinamerika-Nachrichten geführt hatten. Vermutlich verklärt er damit auch etwas die „wilden“ Siebziger, die er nur als Youngster mitgekriegt hatte. Urs Müller-Plantenberg, Mitbegründer des Heftes und heute Privatdozent im Lateinamerika-Institut der FU, sieht das etwas gelassener. „Flügelkämpfe kann man unsere Diskussionen aus der Zeit nicht nennen. Wir haben uns nie von den linken Gruppen vereinnahmen lassen, auch wenn es Versuche in dieser Richtung gab.“ Der Unterschied zu heute liege mehr darin, so Müller-Plantenberg, daß die Sprache in der Redaktion und im Heft sich geändert habe. „Früher haben wir mehr Ausrufezeichen hinter unsere Aussagen gesetzt, in den Neunzigern nimmt man an vielen Stellen lieber ein Fragezeichen.“ Fast wirkt es ein bißchen melancholisch, wenn er das sagt, um dann verhalten-euphorisch über das politische Engagement der Studenten in den Siebzigern zu erzählen.

Die Chile-Nachrichten (ChN), so nannte sich das Magazin in den ersten Jahren, erschienen im Juni 1973 zum ersten Mal, in einer Auflage von 50 Stück. Es waren ein paar zusammengeheftete Blätter, die einen Bericht des Ehepaars Müller-Plantenberg über die Situation der Unidad Popular, der „Volkseinheit“ in Chile, enthielten. Gleichzeitig gründeten die beiden mit Freunden das später legendäre Berliner Chile-Komitee. Die ChN enthielten, wie es sich für ein Soli-Blatt gehört, außer dem Bericht über den südamerikanischen Staat auch noch Ankündigungen zu Solidaritätsveranstaltungen, Adressen anderer Komitees und Spendenaufrufe. Mit dem Pinochet-Putsch im September 1973 schnellte die Auflage auf 4.000 Exemplare hoch, im November erreichte die ChN ihren Höchststand mit 4.800 Heften.

Mit dem Staatsstreich des General Videlas im Jahr 1976 in Argentinien war den Linken und damit auch der Redaktion von ChN klar, daß Chile nicht mehr isoliert betrachtet durfte. Schon vorher hatte man immer wieder über andere Länder berichtet – die Artikel kamen von reisenden oder dort wohnenden Freunden oder wurden aus lateinamerikanischen Magazinen und Zeitungen übersetzt –, aber jetzt weitete die Redaktion endgültig ihr Themenspektrum auf ganz Lateinamerika aus. Aber erst im Jahr 1977 wurde das Magazin in Lateinamerika-Nachrichten (LN) umbenannt.

In den 21 Jahren hat sich jedoch nicht nur die Sprache verändert, sondern auch das politische Umfeld und damit die Mitarbeiter der Lateinamerika-Nachrichten, wie Jürgen und Urs feststellten. Spätestens seit dem Wahlsieg des konservativen Parteienbündnisses von Violeta Chamorro in Nicaragua 1990 gab man die Hoffnung auf ein mögliches sozialistisches Staatenmodell in Lateinamerika auf. Seither hat sich auch der Mitarbeiterstamm verändert. „Heute kommen viel mehr Leute, die nicht nur politisch motiviert sind, sondern auch Spaß am Zeitungmachen haben und die Lateinamerika-Nachrichten als Sprungbrett in den Journalismus sehen“, bemerkt Jürgen. Auch für Müller-Plantenberg ist diese „Professionalität auf Kosten des Inhaltes“ kein Problem, denn „mit den Parolen der Siebziger kann heute keiner mehr etwas anfangen“.

Die Redaktion trifft sich jeden Donnerstag um 19.30 Uhr im Hinterhof des Mehringhofes im rechten Gebäude, 5. Stock, Gneisenaustraße 2, Telefon: 694 61 00.