Sozialismus, Faschismus oder Chaos?

Lateinamerikanische Linkspolitiker diskutierten in Frankfurt/Main über ihre Zukunftsperspektiven / Rückkehr zum Pragmatismus, aber auch Zweifel an der rein formalen Demokratie  ■ Von Bettina Bremme

Frankfurt/Main (taz) – „Die Fragestellung ist wie eine Zwangsjacke, die den Blick auf die reiche Wirklichkeit versperrt.“ Shafik Jorge Hándal aus El Salvador, Leitungsmitglied der ehemaligen Guerillabewegung FMLN, war nicht der einzige, der sich mit der rigorosen Leitfrage des Treffens nicht so recht identifizieren konnte: „Reform oder revolutionäre Theorie und Praxis in Lateinamerika und Europa“ lautete der Titel des internationalen Kongresses, den der Solidaritätsverein „Momimbó“ am Wochenende in Frankfurt organisiert hatte.

Vor etwa 400 ZuhörerInnen referierten führende VertreterInnen verschiedener linker Parteien aus Brasilien, Cuba, Argentinien, Venezuela, El Salvador, Guatemala, Nicaragua und Chile und fragten: Ist eine grundlegende Demokratisierung möglich, oder sind die formalen Demokratien, die in den letzten Jahren nach Abdankung der Militärs in Ländern wie Chile, Argentinien, Paraguay oder Brasilien entstanden sind, eine Fortsetzung der Diktatur mit anderen Mitteln? Der argentinische Journalist Miguel Bonasso: „Die 60er Jahre waren die Zeit der revolutionären Bewegungen. In den 70er Jahren kamen die Militärdiktaturen, die in den 80ern von formalen Demokratien abgelöst wurden. Was werden die 90er Jahre bringen? Kommt jetzt wieder eine Phase der autoritären Staatsformen à la Fujimori in Peru, oder gibt es Möglichkeiten für linke Reformprojekte?“

Allerdings: das fast ausschließlich aus männlichen Parteienvertretern zusammengesetzte Podium spiegelte nicht gerade die Vielfalt der lateinamerikanischen Linken wider. Abgesehen von der Diskussionsleiterin und einer nicaraguanischen Sandinistin waren Frauen lediglich als Übersetzerinnen präsent. Auf die Anwesenheit von VertreterInnen sozialer Bewegungen war offenbar kein Wert gelegt worden. Und so blieb es einer Lateinamerikanerin aus dem Publikum vorbehalten, darauf hinzuweisen, daß es mittlerweile auf lateinamerikanischer Ebene zahlreiche Treffen und Zusammenschlüsse von Frauengruppen, Umweltverbänden, Bauernorganisationen, Schwarzen und Indios gibt, die ja nicht zuletzt in der Kampagne gegen die offiziellen 500-Jahr- Feiern im vergangenen Jahr eine entscheidende Rolle spielten.

Ein Blick auf die gegenwärtige politische Landkarte Lateinamerikas zeigte dazu: Die Situationen in den verschiedenen Ländern sind so unterschiedlich, daß es schwer ist, allgemeine Prognosen zu treffen. Einziger gemeinsamer Nenner ist die rigide Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftsprogramme, die die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Das Streichen öffentlicher Ausgaben im sozialen Sektor und im Bildungsbereich, die Privatisierungen öffentlicher Unternehmen haben immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Heute ist es für viele Basisbewegungen in Ländern wie Peru oder Brasilien eine zentrale Forderung, Hunger und Massenelend zu beseitigen.

Wenn in seinem Land durchgesetzt werden könnte, daß die gesamte Bevölkerung dreimal täglich zu essen bekäme, so Nildo Domingos von der brasilianischen „Arbeiterpartei“ (PT), wäre dies schon eine revolutionäre Errungenschaft. Gleichzeitig sieht auch er die Gefahr, sich in tagespolitischen Forderungen aufzureiben: „Die Linke war bis vor kurzem zu dogmatisch. Nun ist sie zu pragmatisch.“

Mit dem Vorwurf eines zu großen Pragmatismus, einer „Sozialdemokratisierung“ war insbesondere der Vertreter der FMLN aus El Salvador, Shafik Jorge Hándal konfrontiert. Die ehemalige Guerilla, die Anfang letzten Jahres nach zwölfjährigem Kampf mit der Regierung einen Friedensvertrag aushandelte, hat gute Chancen, nach den Wahlen im kommenden März die Regierung zu übernehmen. Ihr Programm konzentriert sich auf eine grundlegende politische Demokratisierung und Entmilitarisierung der Gesellschaft; es sieht eine Stärkung genossenschaftlicher Eigentumsformen vor und will die Marktwirtschaft erhalten. Gegenüber Kritikern betont Hándal: „Ob die Demokratie sich am Ende als eine bürgerliche, rein formale oder als eine substantielle herauskristallisieren wird, ist eine offene Frage. Wir von der FMLN bestehen auf unserem grundlegenden Recht auf die Methode des trial and error in einer Welt, die uns weder Beispiele noch Bezugspunkte bietet.“

So wurde ziemlich deutlich, daß es zur Zeit vor allem um die Entwicklung nationaler Perspektiven geht. Zwar wurde immer wieder die Notwendigkeit beschworen, sich auf kontinentaler Ebene zusammenzuschließen und auch mit linken Bewegungen aus Afrika oder Asien zu kooperieren, und der „Geist Simón Bolivars“, des kontinentweiten antikolonialen Befreiungskämpfers aus dem vorigen Jahrhundert, schwebte nicht nur in Form eines riesigen bemalten Transparentes über den Köpfen der Diskutierenden. Es wurde jedoch betont, daß „Sozialismus in einem Land“ – siehe Kuba und Nicaragua – nicht realisierbar sei; durch den Niedergang des „realexistierenden Sozialismus“ hätten sich die Rahmenbedingungen weiter verschlechtert. Dazu Eleuterio Huidobro von der ehemaligen Guerilla und jetzigen Partei der Tupamaros aus Uruguay: „Früher sahen wir die Alternativen Sozialismus oder Faschismus. Heute ist eine dritte Alternative aufgetaucht, die sich besonders in einigen afrikanischen Ländern oder in Osteuropa zeigt: das Chaos.“

Trotzdem: In einigen Ländern Lateinamerikas haben Reformprojekte in den letzten Jahren an Boden gewonnen, beispielsweise in El Salvador, Brasilien oder Uruguay. Was die politischen Programme angeht, möchten die LateinamerikanerInnen zwar diskutieren, wehren sich aber gegen europäische Bevormundung. Dazu Huidobro: „Es wäre wünschenswert, wenn sich die Deutschen mehr um ihre Probleme hier kümmern würden. Wir würden gerne in Lateinamerika ein Komitee zur Unterstützung der Revolution in Deutschland gründen.“