Die Medien der Bewegung

Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit erscheint in Berlin eine Fülle alternativer „Dritte Welt“-Zeitschriften / Ein nicht vollständiger Überblick  ■ Von Bernd Pickert

Ein Blick an jeden beliebigen Zeitungskiosk eröffnet ungeahnte Perspektiven, über welche Themen eine Illustrierte, ein Wochenmagazin oder ein Monatsblatt produziert werden kann. Im Unterschied zu anderen Ländern existiert in Deutschland allerdings kein einziges großes Fachblatt für alles, was nicht Deutschland ist. Auslandsmagazine gibt es mit Weltspiegel und Auslandsjournal gerade mal im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Wer aber regelmäßige Informationen über die „Dritte Welt“ sucht und nicht auf rein wissenschaftliche Publikationen zurückgreifen will, ist auf alternative Medien angewiesen. Und davon gibt es in Berlin eine ganze Menge — nur am Kiosk sind sie nicht zu bekommen.

Da war zum Beispiel bis letzten Freitag der ides, der Informationsdienst El Salvador. War – denn den ides gibt es nicht mehr. Dramatisch rot-gelb leuchtet das Titelblatt der letzten Ausgabe des traditionsreichen Bewegungsblattes, der untergehenden Sonne gleich. 650 Ausgaben hatte das ständig sich wandelnde Kollektiv in dreizehn Jahren seiner Existenz produziert – innerhalb der Berliner Solidaritätsbewegung mit Zentralamerika waren die wöchentlichen acht Seiten eine Institution. Der ides provozierte, initiierte Anfang der achtziger Jahre die von der taz unterstützte Kampagne „Waffen für El Salvador“ und lieferte Woche für Woche im besten Bewegungsdeutsch die Infos zur nächsten Salvador- oder Nicaragua-Demo. Der ides lebte von Berichten, die aus diversen Quellen direkt aus Nicaragua oder El Salvador, aus Honduras oder Guatemala nach Deutschland gelangten.

Unzählige Nicaragua-BrigadistInnen werden sich erinnern, wie sie bei der Rückreise am Flughafen in Managua ein Päckchen mit Zeitungsschnipseln zum Transport in die Hand gedrückt bekamen, mit einer Berliner Telefonnummer drauf. „Is' superwichtig, ist für den neuen ,ides‘.“

Aber ein Bewegungsblatt braucht eben die Bewegung. In Hochzeiten fand der ides AbnehmerInnen für eine Auflage von 4.000 Exemplaren. Irgend jemand rechnete schließlich nach, daß von den nur 250 Abonnements, die am Schluß noch übrig waren, fast 150 Frei- und Knastabos waren. Dem ides war die Grundlage entzogen mit dem Ende der Revolution in Nicaragua und dem anschließenden Solidaritätsgruppensterben und mit dem Friedensabkommen in El Salvador – vor allem aber auch mit den politischen Umbrüchen hier, im „imperialistischen Herzen der Bestie“.

Andere Blätter hatten sich schon verändert. Die Redaktion der Lateinamerika Nachrichten im fünften Stock des Mehringhofes feierte vergangene Woche ihr zwanzigjähriges Bestehen. Im Juni 1973, wenige Monate vor dem Putsch in Chile, war die erste Nummer als Chile-Nachrichten erschienen, ein auf Matrize zusammengetipptes Informationsblättchen. Die Höchstauflage von 6.000 Exemplaren erreichten die Chile-Nachrichten nur unmittelbar nach dem Putsch, als es auch in der Bundesrepublik eine große Solidaritätsbewegung gab. Die jedoch wuchs an und flaute wieder ab, und so benannten sich die Chile-Nachrichten 1977 in Lateinamerika Nachrichten um. Seitdem bringen die LN monatlich Berichte, Analysen und Hintergründe zu ganz Lateinamerika. Die Auflage erreichte zwar nie wieder die Spitzenwerte von 1973, doch mit rund 2.000 verkauften Exemplaren können die LN überleben.

Die Solidaritätsbewegung in der Bundesrepublik war immer stark auf Lateinamerika ausgerichtet, und die Berliner Alternativmedien sind es auch. Die Nachfolge vom ides tritt Poonal an, ein deutschsprachiger Nachrichtendienst, der wöchentlich die Informationen von 17 alternativen lateinamerikanischen Nachrichtenagenturen übersetzt. Poonal will vor allem eine scheinbar eherne Regel durchbrechen: daß über Lateinamerika immer nur von außen geschrieben wird. „In diesem Nachrichtendienst berichten nicht deutsche, sondern lateinamerikanische JournalistInnen über ihre Länder. Die Artikel haben einen anderen Blickwinkel – eben einen lateinamerikanischen“, schreiben die Poonal-Leute in einer Selbstdarstellung. Das Ziel aber, als Nachrichten- und Hintergrundservice Eingang bei Tageszeitungen und anderen Massenmedien zu finden, hat Poonal noch nicht erreicht, trotz aller Professionalisierungsversuche. Das Interesse ist gering, zudem die – nicht in Berlin ansässige – Nachrichtenagentur Inter Press Service und der Evangelische Pressedienst oft ähnliche Themen abdecken.

Klein und selbstgemacht präsentiert sich Bolivia, eine Zeitschrift fast nur über Bolivien. Nach eigenen Angaben immerhin 360 LeserInnen verfolgen die nicht ganz regelmäßig erscheinende Publikation des SAGO-Informationszentrums am Kottbusser Damm. Auch sie haben gerade Jubliäum gefeiert: Im März dieses Jahres konnten sie die Nummer 100 herausbringen. Und wen die Mischung zwischen Schreibmaschinen- und Laserdrucker- Schriftarten nicht abschreckt, wird hier viele detaillierte Informationen über Bolivien finden.

Ein ganz anderes Interesse verfolgt das neben Poonal einzige Blatt, das erst in den letzten Jahren entstanden ist. Die Umbrüche, eine Zusammenarbeit von Menschen aus dem „Infoladen Dritte Welt“ in der Neuköllner Thomasstraße und dem „Baobab Infoladen Eine Welt“ in der Ostberliner Winsstraße. Die Umbrüche sind nicht nur das einzige bewußte Ost-West-Kooperationsprodukt im alternativen Medienmarkt, die „sechs Ossis, zwei Wessis und ein Wossi“ wollen auch nicht nur über die Länder der Dritten Welt berichten. Schwerpunktthemen zu Drogen, Rassismus in Deutschland oder der geteilten Linken in Ost und West machen die Zeitschrift auch für Menschen interessant, die nicht direkt aus der „Dritte-Welt-Szene“ kommen. Auffällig an den Umbrüchen ist auch der sehr persönliche Stil vieler Beiträge. Da wird zum Beispiel im Schwerpunktthema „Geteilte Linke“ auf sieben Seiten ein Gespräch innerhalb der Redaktion abgedruckt – so etwas würden sich andere Zeitschriften nur dann trauen, wenn sie prominente Namen zu bieten hätten. Viermal im Jahr produziert die Redaktion ein rund 70 Seiten starkes Heft, dem der Spaß am Blattmachen anzumerken ist.

Die alternative „Dritte Welt“- Medienlandschaft hat sich verändert. Hier sind längst nicht alle in Berlin erscheinenden Blätter genannt, aber der Trend ist abzusehen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind die meisten Zeitschriften – und das nicht nur in Berlin – von Bewegungsblättern zu Fachzeitschriften geworden. Alternativ – das ist vor allem die unentgeltliche Arbeit der Redaktionen, ihre oft kollektiven Strukturen und der Versuch, dem gesunkenen Interesse an Nord-Süd-Fragen zu trotzen.