»Sticken statt ficken ist doch Scheiße!«

■ Helga Goetze, »primäre Tabubrecherin« vom Breitscheidplatz, wird 70/ Mit einem Latin Lover kam die biographische Wende/ Bauklötze in der Psychiatrie/ Jetzt ist sie längst entdeckt

»Ficken macht friedlich — huiiiihhh!« Der blasphemische Sirenenton erwischt die Frau im Pelz eiskalt von der Seite. Die vornehme Dame grinst verwirrt und flüchtet auf den Ku'damm. »Frauen sind zugestopfte Löcher!« Das geht an die Schülergruppe: Die pubertierenden Mädchen beginnen unsicher zu kichern, stoppen vor dem Stepper nebenan und schielen klammheimlich zurück. »Der Krieg ist der Vater aller Dinge — Scheiß-Väter!« Ein Schnauzbart blickt schockiert zur Seite, stolpert und hastet weiter.

An Helga Goetze kommt so leicht niemand vorbei. Buchstäblich. Denn ihr Revier ist das Nadelöhr vor der Gedächtniskirche. Wenn sich hier die meisten Menschen drängeln, zwischen zwei und vier am Nachmittag, bezieht Helga Goetze ihre Stellung. Drapiert im bunten Stricktalar, schimpft die seit letzten Donnerstag 70 Jahre alte Frau lauthals drauflos: »Je dümmer die Tussis, desto besser für den Staat!«

Seit 1983 macht sie das. Allerdings nicht ohne Schwierigkeiten: Mehrmals kam die Polizei. Jedesmal ging's dann in der Wanne ab zur Wache Bismarckstraße. Dort pöbelten die Polizisten. Und in einer Zelle mußte Helga Goetze sich nackt ausziehen. »Wenn ich geschrien hätte, wäre ich in der Psychiatrie gelandet!« Dahin kam sie dann auch so. Anlaß: 350 Mark Bußgeld für ihr Credo »Ficken macht friedlich«. Das sei »sittenwidrig«, fand die Polizei. »‘Licence to kill‚ ist für euch wohl harmlos«, protestierte Helga und blieb die Strafe schuldig — ein klarer Fall für die Bonhoeffer-Nervenklinik. Dorthin wurde sie — unter Androhung von Zwang — zum Psychotest zitiert. Beim Chefarzt höchstpersönlich. »Vor dem sollte ich dann mit bunten Bauklötzen hantieren. Da hab' ich mich natürlich geweigert«, erzählt sie. Statt dessen gab sie dem Doktor aus ihrem Buch Hausfrau der Nation oder Deutschlands Supersau zu lesen.

Wie der Psychotest ausfiel, ist geheim. Allerdings: Auf Bußgelder verzichtet die Staatsgewalt seitdem. Und ein polizeiliches Gutachten bescheinigt sogar: »Helga Goetze ist ein beruhigendes Element am Breitscheidplatz.« Da weist der Kontaktbereichsbeamte inzwischen auch schon mal frotzelnde Sextaner zurecht: »Laßt euch von der Helga ruhig einmal aufklären!« Experten liegen ohnehin auf ihrer Linie. Ein Medizinaldirektor bezeichnete sie einmal als »primäre Tabubrecherin«. Und eine Sozialwissenschaftlerin erkannte: Helga Goetze bekämpft das »Vakuum nach der Menopause«.

Doch die Wurzeln liegen lange vor den Wechseljahren: Damals, als Helga, dreijährig, am Genital ihres Bruders spielte. »Da schrie mein Vater: ‘Man zieht das nicht und faßt das auch nicht an!‚« Schlechte Karten also für die Ehe mit dem Prokuristen Curt, zwölf Jahre älter und angestellt bei der Deutschen Bank. Ihn heiratet Helga, als sie zwanzig ist: »In dreißig Ehejahren habe ich den Schwanz meines Mannes weder gesehen noch berührt. Und auf die Lippen hat er mich nie geküßt.«

Die Bilanz von soviel Sinnlichkeit: immerhin sieben Kinder. »Die hab' ich für die Gesellschaft kaputtgemacht — eine reife Leistung.« Zur Silbernen Hochzeit, 1967, hat Helga schon lange mit sich abgeschlossen. »So 'ne Alte faßt doch keiner mehr an«, dachte sie, damals 46. Bis Giovanni kam. Das war in Palermo, wo Helga und Curt anläßlich der Silberhochzeit weilten. »Deine Augen sind so schön wie die Sterne«, flüsterte Giovanni seiner Helga damals in ihr rechtes, einseitiges Segelohr. Der verständnisvolle Curt gewährte seiner Frau darauf eine Liebesnacht mit dem Latin Lover.

Aus der Nacht wurde ein Jahr: »Da sind die Kleider geflogen, ohne die neurotischen Vorspiele.« Als Giovanni reumütig zu Kind und Frau zurückkehrte, setzt Helga Goetze ihre Entdeckungsreise fort: Per Kontaktanzeige sucht und findet sie die Männer. Zwei Jahre lang. Und alles auf Anraten des väterlichen Gatten. Dabei fühlt sie, wie sie »als Frau immer mehr zum Glänzen kommt«. Schließlich trennt sie sich von ihrem Ehemann, landet in einer Schwulen-WG und praktiziert während der APO-Zeit freie Liebe in einer österreichischen Hippiekommune. 1973 tritt sie in einer Talkshow auf. Thema: »Hausfrau sucht Kontakte« — ein Skandal. Die Deutsche Bank gibt sich empört und schickt Curt vorzeitig in den Ruhestand.

Seitdem malt, dichtet und stickt Helga Goetze wahre Kunstwerke gegen die sexuelle und seelische Verkrüppelung der Frau. »Wie ein Affe im Käfig« fühlt sie sich dabei manchmal. Denn längst ist sie entdeckt — so von Rosa von Praunheim, der sie in seinem Film Rote Liebe präsentierte. Oder von der Schar liebenswerter Neurotiker, die sich sonntags bei ihr zur therapeutischen »Märchenstunde« treffen. Und natürlich von den Journalisten: Selbst die 'Zeit‘ widmete ihr schon eine Spalte — in der Rubrik »Das Letzte«.

»Wer was von mir will, müßte eigentlich mit mir ficken«, wünscht sich Helga Goetze, trotz all des Rummels resigniert: denn allzu oft bekommt sie einen Korb. »Natürlich bin ich auch noch sexuell verkrüppelt. Aber ich schreie wenigstens. Die anderen haben Migräne, Depressionen oder Magenschmerzen. Die saufen und sehen fern.« Auf ihrem abendlichen Spaziergang um den Savignyplatz fühlt sie sich oft einsam: »Da sitz' ich nun und mache all das für mich allein. Ist ja eigentlich blöd. Helfende Hände, darauf warte ich. Sticken statt ficken ist doch Scheiße.« Marc Fest