Psychotherapie: Heilung oder Risiko

■ Die Wirksamkeit der Psychotherapie ist nach wie vor umstritten/ Das Geschlechterverhältnis bleibt in der Therapieforschung weitgehend ausgespart/„Doppelstandard seelische Gesundheit“

Als Sigmund Freud im Jahre 1900 die 16jährige Industriellentochter Ida Bauer kennenlernte, wurde sie wegen „Lebensüberdruß“ und einer „allgemeinen Veränderung des Charakters“ zu ihm in die Behandlung gebracht. Sehr zum Unwillen ihres Vaters wollte sie die mit ihm eng befreundete Familie K. nicht mehr sehen. Sie behauptete, Herr K. habe sie mehrfach sexuell belästigt. Freud hielt Ida Bauers Reaktionen für hysterisch. Bei einem gesunden Mädchen, so seine Überzeugung, hätte die Annäherung des wesentlich älteren Mannes „eine deutliche Empfindung sexueller Erregtheit“ hervorgebracht. Überhaupt nahm er Ida ihre Abneigung gegen Herrn K. nicht ab. In Wirklichkeit, so seine Deutung, sei sie in den Mann verliebt; nur die Kränkung darüber, daß Herr K. vor kurzem einem Hausmädchen der Familie in gleicher Weise den Hof gemacht habe, treibe sie dazu, ihre Gefühle zu verleugnen.

Im „Fall Dora“ (so hat Freud Ida Bauer in der Niederschrift der Krankengeschichte später genannt) finden sich alle Elemente einer mißlungenen therapeutischen Beziehung: Die Gefühle der Patientin werden nicht ernst genommen, der Arzt ist sich seiner Voreingenommenheit als Vertreter des gesellschaftlich dominanten Geschlechts nicht bewußt; Definitionsmacht über äußere und innere Realität liegen allein beim Therapeuten.

Ob, wie und unter welchen Umständen Psychotherapie wirkt, ist immer noch umstritten und zweifelhaft. Das hat auch der Kongreß für Klinische Psychologie der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie im Februar in Berlin deutlich gemacht. Die dort von den Koryphäen der Therapieforschung vertretenen Standpunkte waren teilweise diametral entgegengesetzt: Da sprach sich der eine für Kurzzeittherapien aus, während der andere gerade bei Kurztherapien negative Effekte feststellte. Und während der eine das Zusammenpassen von Therapeuten- und Klientenpersönlichkeit für das entscheidende Erfolgskriterium hielt, betonte der andere, wie ausschlaggebend die Auswahl einer störungsspezifischen Behandlungsmethode sei. Als Quintessenz solcher Ausführungen könnte ein Satz der US-amerikanischen Psychologenvereinigung gelten: „Psychotherapie scheint häufiger wirksam als unwirksam zu sein, aber die Bedingungen, unter denen sie wirkt, sind noch weitgehend ungeklärt.“

Daß das so ist, hängt auch mit der schwierigen Erfolgsbestimmung von Psychotherapie zusammen: Wer soll zum Beispiel über den Therapieerfolg entscheiden? Die TherapeutIn, die KlientIn oder beide? Und was ist, wenn sich ein/e KlientIn besser fühlt, obwohl sich seine/ ihre objektiven Lebensumstände verschlechtert haben? Ist also eine Symptomreduktion und ein besseres Zurechtfinden im Alltag ausschlaggebend? Oder kommt es eher auf die subjektive Befindlichkeit der KlientIn an? Hier werden je nach ForscherIn und Therapierichtung sehr unterschiedliche Antworten gegeben.

Am ehesten scheinen sich die ExpertInnen darauf einigen zu können, bei welchem Personenkreis Psychotherapie wirksam ist. Demnach haben sogenannte „YAVIS-R“ also junge (young), attraktive, verbalisierungsfähige, intelligente, erfolgreiche (successful) und begüterte (rich) Menschen die besten Erfolgsaussichten. Wer dagegen schon älter und infolge einer langandauernden Persönlichkeitsstörung sozial abgestiegen ist, sollte auf Psychotherapie also nicht allzu große Hoffnung setzen. Wie sagt doch Hans H. Strupp, der US-amerikanische Altmeister der Therapieforschung, „Patienten, die relativ gesund sind, beträchtliche Anpassungsfähigkeiten und beträchtliche Ich-Ressourcen besitzen und gut motiviert sind für die therapeutische Arbeit, haben eine beträchtlich bessere Prognose, als Personen, denen es an diesen Qualitäten mangelt.“Ironisch zugespitzt, heißt das: Psychotherapie ist da am wirksamsten, wo sie am wenigsten notwendig ist.

Obwohl mehr Frauen als Männer therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, lassen solche Untersuchungen die Geschlechtszugehörigkeit außer acht. Meistens ist nur geschlechtsneutral von dem „Patienten“ die Rede. Dabei hatte schon in den siebziger Jahren die US-amerikanische Psychologin Phyllis Chesler entdeckt, wie ausschlaggebend das Geschlecht für die psychtherapeutische Diagnose ist: In ihrem Buch Das verrückte Geschlecht‘ stellte sie einen „Doppelstandard seelische Gesundheit“ für Frauen fest. Sie wies nach, daß TherapeutInnen eher traditionell männliches als weibliches Verhalten als normal einstufen, und daß deren Vorstellung einer gesunden Frau der eines neurotischen Mannes entspricht. Daher konstatierte sie, daß „die Idee der seelischen Gesundheit in unserer Gesellschaft männlich“ ist. Zu ähnlichen Schlüssen kommt jetzt auch Christa Rohde-Dachser vom Psychoanalytischen Institut der Universität Frankfurt. Anhand von neueren Standardwerken verschiedener Therapieschulen weist sie nach, daß sich das Geschlechterverhältnis in der psychotherapeutischen Beziehung ständig wiederholt und gleichzeitig im psychotherapeutischen Diskurs systematisch ausgeblendet wird. So erwähnt die Verhaltenstherapie beispielsweise Geschlechtsunterschiede mit keinem Wort.

Welche Phantasien sich bei männlichen Analytikern um die Geschlechterdifferenz ranken, weist die Frankfurter Analytikerin Rohde- Dachser in einer Studie nach: Über mehrere Jahre hatten WissenschaftlerInnen die Vater- und Mutterbeschreibungen in psychoanalytischen Fachzeitschriften untersucht. Dabei hatten männliche Autoren im Vergleich zu weiblichen ein eindeutig negativ gefärbtes Mutterbild. Sie umgaben besonders die Mütter der Patientinnen mit Worten wie Scham, Schuld, Trauer und Depression. Fehlentwicklungen lasteten sie hauptsächlich der Abwesenheit der Väter an, ohne zu fragen, welche Lebensmöglichkeiten die Töchter auch ohne idealisierten Vater als Bezugspunkt gehabt hätten.

Das Geschlechterverhältnis ist jedoch nicht der einzige blinde Fleck der therapeutischen Theorie und Praxis. So sieht die Berliner Psychologin Birgit Rommelspacher deutliche Parallelen zwischen der Behandlung von Frauen und ethnischen Minderheiten. Wie im therapeutischen Diskurs insgeheim der Mann als Norm und die Frau als Abweichung gelte, würden Angehörige ethnischer Minderheiten zum Sonderfall von der Regel weißer, westlicher Mittelklassemenschen gemacht. Psychische Beeinträchtigungen durch Migration und Exil werden dann oft als persönliches Problem, als Persönlichkeitsstörung interpretiert.

Vielleicht könnte eine antirassistische Therapie von Angehörigen ethnischer Minderheiten für Angehörige ethnischer Minderheiten hier eine Lösung sein, ähnlich wie sie in den letzten Jahrzehnten die feministische Therapie für Frauen entwickelt hat. Und was bleibt sonst noch als Alternative zur Psychotherapie?

Natürlich die Selbsthilfegruppen, die gerade bei Personengruppen Erfolge erzielten, die professionelle Helfer schon abgeschrieben hatten. Neben reinen Selbsthilfegruppen gibt es auch Zwischenformen, in denen Berater von außen in der Anfangsphase oder in Krisensituationen ihre Unterstüzung anbieten. Für solche Modelle spricht auch eine Untersuchung aus dem Jahre 81, in der die therapeutische Wirksamkeit von Laien und Experten verglichen wurde: Von 42 Studien, die dieser Frage nachgingen, wurden in 28 von ihnen keine Unterschiede hinsichtlich der Wirksamkeit gefunden. 12 Studien belegten die Überlegenheit von Laien. Nur in einer einzigen Studie schnitten die professionellen Helfer besser ab. Dagmar Schediwy