Heftiges Erdbeben am Südrand des Himalaya

 ■ Aus Neu Delhi B. Imhasly

Ein heftiges Erdbeben hat im Wochenende große Teile Nordindiens erschüttert. Über die Zahl der Opfer lagen gestern weit auseinandergehende Zahlen vor: Zwischen 300 und 1.500 Menschenleben habe das Beben gefordert, das am Sonntag in der Frühe einen Wert von über sechs auf der Richterskala verzeichnete und 45 Sekunden dauerte.

Die unterschiedlichen Angaben weisen auf die Abgelegenheit der Region hin, in welcher sich das Epizentrum des Bebens befand, und auf die zerstörten Verkehrs- und Kommunikationswege dorthin. Stark in Mitleidenschaft gezogen wurde das Tal des Bhagirathi-Flusses, der sich später mit dem Alaknanda verbindet, um dann als Ganges in die weite Ebene von Uttar Pradesh zu treten. Im spärlich bewohnten Oberlauf befanden sich am Wochenende zahlreiche Hindu-Pilger, welche noch kurz vor Einbruch des Winters die Ganges- Quelle oberhalb von Gangotri besuchten.

Erdrutsche, gerissene Straßenführungen und eingebrochene Brücken haben das Tal von der Umwelt abgeschnitten und den Einsatz von Armeehelikoptern nötig gemacht, um der vermutlich großen Zahl von Verletzten — meist wegen eingestürzten Häusern — Erste Hilfe zu leisten. Inzwischen hat die Armee, die wegen der Grenznähe zu China in dieser Gebirgsregion stark vertreten ist, mit der Wiederherstellung der Straßenverbindungen begonnen, um den Nachschub von Nahrungsmitteln und Decken zu ermöglichen.

Das Beben war in einem Radius von über 300 Kilometern zu spüren, unter anderem auch in der Hauptstadt Neu Delhi.

Die gesamte Südflanke des Himalaya von Kaschmir bis Assam ist eine aktive seismische Zone, die jedes Jahr besonders in seinen südlichen Ausläufern zahlreiche kleinere Beben verzeichnet. Laut indischen Geologen sind sie das Resultat der kontinuierlichen Nordwärtsbewegung der indischen Erdplatte, deren „Aufeinanderprallen“ mit dem asiatischen Festland zur Auftürmung des Himalaya-Gebirges geführt hat, ein Prozeß, der — mit einer Jahresgeschwindigkeit von 2,5 Zentimetern — weiterhin abläuft.

Das heftige Erdbeben wird der Kontroverse um den Bau eines grossen Staudamms in Tehri, etwa 70 Kilometer flußabwärts von Uttarkashi, neue Nahrung geben. Die auf 1,2 Milliarden Dollar projektierte Stauung des Bhagirathi ist seit über zehn Jahren heftig umstritten, neben der Zwangsumsiedlung einer ganzen Talschaft auch aus Gründen der Erdbebensicherheit. Obwohl das Projekt eine Mauer vorsieht, die auch Beben einer Stärke von 7,5 auf der Richterskala absorbieren kann, hat die Gefahr von Rissen die „Internationale Kommission für Große Dämme“ (ICOLD) bewogen, das Tehri- Projekt, das technisch und finanziell von der Sowjetunion unterstützt wird, in die höchste Risikoklasse einzustufen. Das neueste Beben in unmittelbarer Nähe des Standortes dürfte den endgültigen Entscheid der Regierung, der unmittelbar bevorstand und vermutlich positiv gelautet hätte, nun wieder in weite Ferne rücken.