Indien vor der Unregierbarkeit

Nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Schekhar wählt Indien im Mai ein neues Parlament  ■ Aus Neu-Delhi B. Imhasly

In der ersten Maiwoche sollen Neuwahlen in Indien stattfinden. Nachdem Ministerpräsident Schekhar vor einigen Tagen zurückgetreten ist, wurde am Mittwoch das Parlament aufgelöst. Probleme gab es jedoch schon länger.

Die indischen WählerInnen hatten im November 1989 keiner der Parteien eine absolute Mehrheit gegeben. Die Kongreßpartei wurde mit 195 (von insgesamt 544) Sitzen zwar nach wie vor die stärkste Partei, hatte aber dennoch beinahe die Hälfte ihrer Mandate eingebüßt und konnte keine Koalitionsregierung anführen. Die Janata Dal, Partei des V.P. Singh, war zwar die moralische Siegerin, besaß aber nur 135 Mandate. Sie mußte daher die Unterstützung der Linksfront und der hinduistischen BIP suchen, die allerdings beide unter sich so verfeindet sind, daß sie eine gemeinsame Teilnahme an der Regierung ablehnten. Die beiden Krücken wurden für Janata Dal bald zu Hürden, über die V.P. Singh stolpern mußte. Durch seine Politik der Privilegierung der unteren Kasten verlor er die Unterstützung der BJP, deren Politik es ist, religiöse Identität über die Klassen beziehungsweise Kastenzugehörigkeit zu stellen.

Zudem spaltete sich eine Gruppierung seiner eigenen Partei unter Devi Lal und Chandra Schekhar ab. Schekhar versuchte, das erhitzte Klima zwischen Gemeinschaften und Kasten zu kühlen. Der Erfolg, den er dabei hatte, wurde aber auch zu seinem Schicksal. Schekhar war nicht nur ein Übergangspremier, sondern profilierte sich als engagierter Regierungschef. Mit einer Partei von 62 Sitzen im Rücken konnte er zwar wenig ausrichten, aber er vermittelte dem Volk das Bild eines Mannes, der zu seinen Schwächen steht und seine Ehrlichkeit nicht zu Markte trägt.

Die Kongreßpartei, die sich aus der Unterstützung von Schekhar eine gute Ausgangsbasis für Neuwahlen ausgerechnet hatte, wurde immer mehr ins Abseits gedrängt. Schließlich nahm die Kongreßpartei eine angebliche Abhöraffäre zum Anlaß, die Parlamentssitzungen zu boykottieren. Da die Opposition aus anderen Gründen ebenfalls fernblieb, konnte die Sitzung der Volkskammer nicht eröffnet werden, da mindestens 10 Prozent der Abgeordneten anwesend sein müssen. Diesen „Verrat“ mochte Tschandra Schekhar nicht mehr tolerieren und gab am nächsten Tag seinen Rücktritt bekannt.

Wie sich in den Wahlen vom Mai eine Dreierkonstellation zwischen Kongreß, BJP und Janata Dal auswirken wird, kann erst der Wahltag zeigen. Die Prognosen gehen von einer Erosion der Kongreßbasis bis zur gegenteiligen Hypothese, daß der Wähler im entscheidenden Augenblick vor den partikularistischen Strömungen einer allindischen Identität den Vorzug geben wird, und die findet er in der Kongreßpartei.