Den Kapitalismus nur noch auf der Busspur überholen

Der AL-Funktionär Detlef Schulze tritt aus der Partei aus und kritisiert die Ausgrenzung radikaler Positionen  ■ D O K U M E N T A T I O N

Detlef Schulze, bislang Assistent des Geschäftsführenden Ausschusses der AL, hat gestern seinen Parteiaustritt erklärt. Positionen, die sich auf die „Überwindung des patriarchalischen Kapitalismus und Verweigerung der staatlichen Legalität beziehen“, seien allenfalls noch „randständig“ in der AL vertreten, schreibt Schulze in einer längeren Begründung seines Austritts, die wir - gekürzt dokumentieren. Letzter Anlaß waren für Detlef Schulze die Wahlen zum Geschäftsführenden Ausschuß (GA) vom letzten Sonntag, bei der kein Vertreter radikaler Positionen eine Mehrheit erhielt. (d. Red.)

(...) Ich vollziehe den Bruch, weil (das) eigene zynische Verhältnis zu richtigem politischem Agieren Konsequenzen fordert. (...) (Mein) Hoffen auf einen Anlaß für den Austritt ist symptomatisch für einen Prozeß, in dem die linke Schmerzgrenze langsam, aber zusehends immer höher geschraubt wird: Anläßlich von Konflikten, die eigentlich Anlaß von Austritten sein könnten, unterbleiben diese. (...) Die Entscheidung nach jedem Konflikt: noch einmal abzuwarten, noch einen neuen Anlauf zu unternehmen etc., verbunden mit dem Hintergedanken - um sich selbst hinsichtlich dieses schleichenden Anpassungsprozesses zu belügen -, Austrittsgründe werden sich schon noch genug finden.

(...) Die AL wird nicht mehr mit dem Satz aus dem Programm „Langfristig wird nur die Überwindung dieses patriarchalischen und kapitalistischen Industriesystems ein menschenwürdiges Leben und eine ökologisch sinnvolle Produktionsweise ermöglichen“, nicht einmal mehr mit der Forderung nach Eingriffen in die Produktionsstruktur bei Schering, sondern nur mit Busspuren identifiziert. Die AL wird nicht mehr auch mit dem Satz aus dem Wahlprogramm identifiziert, daß wir uns nicht auf staatlich festgeschriebene Legalität festlegen lassen, sondern mit Häuserräumungen, der maßlosen Erklärung zum 1.Mai sowie der Diskussion über neue Festnahme-Einheiten. (...) Die AL empfindet es als Zumutung, sich für ein paar BesetzerInnen zu engagieren; die AL ist doch schließlich Regierungspartei, muß sich um alle BürgerInnen kümmern.

Parallel zur Reduktion der Inhalte ist die parlamentarische Strategie der AL auf die Koalition reduziert: Trotz des inzwischen breiten, diffusen Unmuts über die Praxis der Koalition nimmt die Einsicht in die Tatsache, daß die kritisierten Probleme größtenteils notwendigerweise mit der Zusammenarbeitsform der Koalition verbunden sind, nicht zu. Eine streitbare Zusammenarbeit im Rahmen einer Koalition wird nicht als Fiktion erkannt.

Nicht, daß es die radikaleren Positionen in der AL nicht mehr gibt, aber es gibt sie nicht mehr als legitime, relevante Positionen, sondern nur noch als randständige. Und als solche werden sie in der Öffentlichkeit auch wahrgenommen. Dieser Prozeß ist nicht nur der subjektiven Unzulänglichkeit der AL-Linken geschuldet. (...) Der Prozeß hat vielmehr objektive Ursachen:

Wesentliche materielle Ursache dieses Prozesses, der schon lange vor der Koalitionsentscheidung begonnen hat, ist die Verparlamentarisierung der Grünen/AL in der Folge ihrer Wahlerfolge. Sie haben es nicht geschafft, eine parlamentarische Strategie zu entwickeln, die den Anpassungszwängen des Parlamentarismus entgegenwirkt. Vielmehr haben sie als die oftmals fleißigsten Abgeordneten, die sich im Ausschuß-Kleinklein aufreiben lassen, statt Schwerpunkte zu setzen, diesen Prozeß noch zusätzlich vorangetrieben.

Potenziert wiederholt sich dieser Prozeß jetzt durch die Regierungsbeteiligung und insbesondere dadurch, wie die AL ihre Regierungsrolle ausfüllt: Völlig absurd ist eine Position, die erst die Koalition gewollt hat und jetzt die 'radikalen Ideen und Utopien‘ und die 'Transparenz der Entscheidungsfindung‘ beschwört. (...) Wer die Koalition will, der/die muß unter den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen in Kauf nehmen, daß in Senat und Abgeordnetenhaus jede Menge Scheiße beschlossen wird, und muß ein erhebliches Maß an Arbeitsteilung akzeptieren sowie den SenatorInnen und Abgeordneten einen großen Vertrauensvorschuß geben. Wer dies nicht will, der/die muß gegen die Koalition sein. Das konsequenzlose Herumjammern über die Folgen der von einem/r selbst getroffenen Entscheidungen führt jedenfalls nicht voran. Der Aufbau von AL-Bereichen als Parallelverwaltungen, das Behandeln jeder Koalitionsangelegenheit im Delegiertenrat, nach Möglichkeit auf der MVV, führt vielmehr nach der Methode 'Legitimation durch Verfahren‘ nur dazu, die Verinnerlichung von Sachzwängen und herrschenden Bewußtseins voranzutreiben, anstatt auf der Grundlage der Anerkennung deren faktischer Existenz eine kritische Politik zu machen, die über sie hinausweist. (...)

Wenn die außerparlamentarischen Gruppen aufgrund ihrer Erfahrungen mit der AL in Zukunft im Dissenz zur AL bar aller parlamentarischen Illusionen weiterhin zu ihren Inhalten stehen würden, dann wäre die rot-grüne Koalition vielleicht doch eine sinnvolle Sache. Der reale Gang der Dinge dürfte aber ein anderer sein: Die RVK-PersonalrätInnen werden wieder SPD wählen, und die Tempelhofer BürgerInnen, die die AL wegen der Ablehnung des Schichauwegs gewählt haben, werden wieder CDU wählen. Die Koalition dürfte eher zu einer rasanten Entpolitisierung und zur Bestätigung des Vorurteils führen, Politik sei halt doch ein schmutziges Geschäft. Die Spielräume für außerparlamentarische Aktivitäten, die eine rot-grüne Koalition mit einer liberaleren Innenpolitik eigentlich eröffnen müßte, sind mit der Räumungspolitik des Senats und der Diskussion über neue Festnahme-Einheiten schon erfolgreich liquidiert. Es gibt keine Reformdynamik, sondern anläßlich des 1.Mai und bescheidener Veränderungen in der Verkehrspolitik eine rechte Gegenmobilisierung, die es der AL in Zukunft eher noch schwieriger machen wird, ihre Position in der Koalition durchzusetzen.

Ursache des AL-Anpassungsprozesses ist, daß die AL -Parteielite seit rund 20 Jahren mehr oder minder linke, radikale, 'systemsprengende‘ Politik (macht), ohne daß sich die Wirklichkeit in die gewünschte Richtung ändert. Auf diese Erfolglosigkeit wird u.a. mit der Anpassung der eigenen Ziele an die Wirklichkeit reagiert.

Neben der Erfolglosigkeit linker Politik in den letzten Jahren ist in bezug auf die AL zu berücksichtigen, daß die alten Mitglieder jetzt nicht mehr StudentInnen oder arbeitslos sind. Gute Jobs bewirken ein Einrichten in den gegenwärtigen Verhältnissen, schlechte Jobs rauben zumindest wertvolle Zeit. Für eine Partei von Leuten, die, was ihre materielle Lage betrifft, mit dem System zufrieden sein können und nur hier und da einige Reformen fordern (etwas mehr Umweltschutz und 'Entwicklungshilfe'; etwas weniger Rüstung), hat die 'Realo'-Linie, abgesehen von der Frage, ob für eine solche Partei zwischen FDP und SPD noch Platz ist, einen gewissen Sinn.

Schließlich ist zu beachten, daß die Radikalität vieler Grüner und Bewegungsforderungen eine Scheinradikalität waren. Viele Einzelforderungen sind zwar an sich radikal, aber das grün-alternative Mittelstandsbewußtsein fernab der Industriearbeit verhindert, daß die gesellschaftliche Totalität ins Blickfeld gerät, daß die Bedingungen der Durchsetzung dieser Forderungen reflektiert, daß ihre Radikalität erkannt und vertreten wird.

Außerdem ist zu berücksichtigen, daß die Mehrheitsverhältnisse durch Neueintritte auf dem rechten Flügel einerseits und Austritte auf dem linken Flügel andererseits kontinuierlich nach rechts verschoben worden sind, wobei sich beide Bewegungen gegenseitig verstärken.

Diese Einschätzung von der Randständigkeit radikaler Positionen innerhalb der AL wird durch das Ergebnis der Wahlen zum Geschäftsführenden Ausschuß nur noch bestätigt. (...) Dies ist ein adäquater Ausdruck der realen Kräfteverhältnisse innerhalb der Partei, bedeutet andererseits aber noch einmal einen Rechtsruck auf der Darstellungsebene von AL-Politik. Die Randständigkeit von radikalen, linken Positionen wird zementiert.