Die Zelle

■ Der Autor war von 1972 bis Sommer 1988 in Haft. Er wurde beschuldigt, 1971 bei einem Banküberfall beteiligt gewesen sein, in dessen Verlauf ein Polizist erschossen wurde. Jetzt hat Klaus Jünschke Texte veröffentlicht „zu Knast und RAF“. Wir danken dem Verlag Neue Kritik für die freundliche Erlaubnis, den folgenden Abschnitt daraus zu veröffentlichen.

Klaus Jünschke

Wer nach Hause kommt, schließt üblicherweise die Haustür auf, geht durch das Treppenhaus, schließt die Wohnungstür auf und ist dann bei sich, in den eigenen vier Wänden. Für diejenigen, die ein Haus haben, ist es nicht viel anders: eine Gartentür, eine Haustür, und man ist bei sich. Wer nicht allein lebt, muß oft gar nicht selbst aufschließen, da von innen aufgemacht wird. Fürs Gefängnis gilt keine dieser Erfahrungen. Der Gang ins Gefängnis ist in den allerseltensten Fällen freiwillig. Die Gewalt, die im Mittelalter die Gefangenen erfuhren, die in Verliese geworfen wurden, diese Gewalt lebt in den Zellengefängnissen fort.

In der Zelle gerät jeder Mensch erst mal außer sich. Unweigerlich. Beim ersten Mal ist es die Konfrontation mit einer Situation, für die es im bisherigen Leben kein Beispiel gab. Die ersten Tage, Wochen, Monate, manchmal noch Jahre nach der Inhaftierung ist die Erregung über diesen Zustand sehr stark. Die extreme innere Spannung läßt einen unruhig hin und her tigern. Unablässig. Oder in nahezu absoluter geistiger und körperlicher Regungslosigkeit, auf dem Stuhl sitzend oder auf dem Bett liegend, verharren. Totstellreflex. Die Feindseligkeit des Eingesperrtseins ist ungeheuer. Eine Zelle ist kein menschliches Zuhause. Wer trotzdem jahrelang drin leben muß, muß seine innere Ruhe wiederfinden, um diese Zeit einigermaßen heil überleben zu können. Die Aufgabe, die es zu lösen gilt: eine unakzeptable Situation zu akzeptieren, handhaben zu lernen. Wer es nicht schafft, wird davon zerrieben. Dieser innere und äußere Druck ist auf Dauer unerträglich. Man könnte - aber man kann nicht - täglich Amok laufen.

In den Zellen sterben Menschen wie draußen in der Freiheit auch. An Altersschwäche, an Krankheiten, durch Selbstmord, durch Unfälle, durch Verbrechen. Aber es ist doch nicht dasselbe. Weil die Zellen keine Orte zum Leben sind, sind sie auch keine zum Sterben. Gefängnisse sind so oder so das Letzte. Auch wenn man schnell wieder rauskommt.

Aus Diez kommt keiner schnell wieder raus. Diez ist die „Schwerstkriminellen-Anstalt“, das Gefängnis mit dem höchsten Sicherheitsstandard in Rheinland-Pfalz, eines der Hochsicherheitsgefängnisse, wie es sie in allen Bundesländern gibt.

Wer Gefangene besuchen will, geht werktags an die Pforte 2 und an den Wochenenden und Feiertagen an die Pforte 1, die Besuchsräume befinden sich hinter diesen Pforten. Ein kurzer Weg durch vier Türen. Wenn es möglich wäre, in Diez einen Gefangenen auf seiner Zelle zu besuchen, müßte sich der Besucher durch mindestens acht Türen schließen lassen. Für die normalen Besucher, für die Angehörigen und Freunde der Gefangenen ist das Zellenhaus aber tabu. Sie können sich nicht einmal an einem „Tag der offenen Tür“ einen Eindruck davon verschaffen, wie ihr Angehöriger oder Freund untergebracht ist.

Die Tür und das Tor an der Knastpforte sind von außen nicht zu öffnen. Das ist der Job der Beamten, die hinter Panzerglas in der Pforte sitzen. Nicht nur Besucher, auch die Knastbeamten und -angestellten werden durch sie eingelassen. Danach erst kriegen sie ihr „Handwerkszeug“, diesen riesigen Schlüssel, mit dem sie sich im Knast durch alle Türen schließen können und mit dem alle Zellen zu öffnen sind. Gefängnistüren haben keine Türklinken. Daher sind die Schlüssel auch heute noch so groß wie die Schließwerkzeuge mittelalterlicher Kerkermeister. Sie dienen nicht nur dem Auf- und Zuschließen, mit ihnen werden auch die sehr schweren Türen aufgezogen und zugedrückt. Diese Schlüssel machen beim Schließen einen Heidenlärm. Türen damit leise aufzuschließen ist offenbar sehr schwer.

Hinter der Hauptpforte ist ein kleiner Hof mit den beiden einzigen Bäumen im Diezer Gefängnis, zwei riesigen Linden. In diesem Bereich sind Gefangene in der Regel schon oder noch in Handschellen: Wer Arztausgang zu einem Facharzt erhält, dem werden schon im Verwaltungsgebäude Handschellen angelegt, und Gefangenen, die von draußen zurückkommen, werden die Fesseln erst dort wieder gelöst; meist auf der Kleiderkammer, einem Bereich im Erdgeschoß, wo man nicht nur durch die Pfortentüren von der Freiheit getrennt ist, sondern überdies durch drei oder vier Türen vom Verwaltungsgebäude. Im Gefängnis sind alle paar Meter Türen. Im Zellenhaus, das sich an das Verwaltungsgebäude anschließt, sind es Gittertüren, durch die man hindurchsehen kann, im Verwaltungsgebäude sind es normale Türen.

Wie ein Zellenhaus im Innern aussieht, ist heute fast allen durchs Fernsehen bekannt. Im Zusammenhang mit den Diskussionen um eine Reform des Strafvollzugs gibt es auch hin und wieder ganze Sendungen über das Gefängnis oder bestimmte Aspekte des Strafvollzugs. Die kleine Glotze ist allerdings kaum in der Lage, den bedrückenden Eindruck zu vermitteln, den diese Zellenhäuser auf jeden Menschen machen, der zum ersten Mal in sie hineingeführt wird. Es gibt keine durchgehenden Fußböden in den einzelnen Stockwerken. Vor den Zellen sind zirka einen Meter breite Galerien. In der Mitte des Zellenhauses führen Treppen nach oben bis zum vierten Stock. Von der Zentrale, das heißt von der Stelle aus, wo die Zellenhäuser beziehungsweise Flügel zusammentreffen, kann ein einzelner Beamter in jeden Flügel, auf jede Etage sehen. Im Duden steht unter dem Stichwort „panoptisches System“: „Die im Interesse einer zentralen Überwachung angewandte strahlenförmige Anordnung der Zellen mancher Strafanstalten“. Das andere Bauprinzip ist bekannt durch die moderne Hühnerhaltung in Legebatterien; die Unterbringung von möglichst vielen auf möglichst kleinem Raum. 17-20 Zellen auf jeder Seite, vierfach übereinander, macht zusammen zirka 160 Zellen in jedem Flügel. Mit dem sich an den alten Sternbau anschließenden Flügel, der Abteilung des gelockerten Vollzugs und dem Freigängerhaus sind das über 600 Haftplätze in der Justizvollzugsanstalt Diez. Auf jedem Stockwerk sind am Anfang zwei Gemeinschaftszellen, alle übrigen Zellen sind Einzelzellen. Wie klein sie sind, ist für den Besucher augenfällig: Tür reiht sich an Tür, fast könnte man den Eindruck gewinnen, die Türen seien breiter als der Abstand von Tür zu Tür. Die Einzelzellen hier in Diez sind zwei Meter breit und 3,5 Meter lang.

Die bedrückende Wirkung kommt nicht allein von der Architektur, im Zellenhaus hängt auch immer ein spezifischer Geruch, ein Gemisch aus Ölfarben, Dampfkost und Reinigungsmitteln, und dann ist es vor allem die Stille, die leblose Stille in diesen Häusern, die einen an die Stille auf Friedhöfen denken läßt.

Die Zellentüren sind aus mit Eisen beschlagenem massivem Holz. Innen sind sie mit Stahlblech zusätzlich verstärkt worden, seit offenkundig wurde, daß der Zahn der Zeit auch an ihnen nicht spurlos vorübergeht. Es sind Türen, die wie so vieles andere in Diez daran erinnern, daß es sich um ein Gefängnis handelt, das schon vor dem Ersten Weltkrieg, im Kaiserreich, gebaut worden ist. Gegenüber den hermetisch abschließenden Stahltüren moderner Gefängnisse haben diese Türen noch etwas Menschliches. Als Gefangener kann man sich noch vorstellen, daß man in einer äußersten Notsituation durch diese Tür von innen durchbrechen kann, etwa indem man die Heizung aus der Wand reißt und sie als Rammbock benutzt. Bei Zellen, die in der Tresorbauweise hergestellt werden, sind solche Vorstellungen Wahnsinn.

Die Zelle ist ein Raum, der von innen nicht geöff net werden kann. Ein Schlüsselloch gibt es nur außen. Darüber liegt ein zusätzlicher Riegel, der nachts zugeschoben wird. Bei Gefangenen, die nur zur Arbeit oder zur Hofstunde rausgelassen werden, weil sie Freizeitsperre haben, geschieht dies auch tagsüber. In Diez wird bei solchen Haus-Strafmaßnahmen ein kleines Vorhängeschloß zusätzlich an diesen Riegel gehängt. Dann sieht jeder Beamte sofort, daß dieser Gefangene einer besonderen Sicherungsmaßnahme unterliegt. „Schloßbesitzer“ gehören in Diez zum „Knastadel“, es sind diejenigen, die im Knast gegen die Hausordnung verstoßen oder sogar Verbrechen begangen haben. Wer draußen Verbrechen begeht, kommt ins Gefängnis, wer im Gefängnis Verbrechen begeht, wird dort von den anderen Gefangenen abgesondert. Doch selbst da gibt es Ausnahmen. Alle wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung Verdächtigen werden in dieser demokratischen Gesellschaft vom ersten Tag an extrem isoliert, zum Teil so extrem, daß es im Gefängnis eigens dafür gebaute Bereiche gibt: Hochsicherheitstrakte. Gerade weil es hier um Maßnahmen geht, die im Normalvollzug in der Strafhaft gegen diejenigen angewendet werden, die schwere Verstöße gegen die Hausordnung oder Verbrechen im Gefängnis begangen haben, kann man sich klarmachen, was es bedeutet, wenn diese extremsten Maßnahmen gegen Gefangene in Strafhaft prinzipiell gegen Untersuchungsgefangene einer bestimmten Kategorie verhängt werden. Da wird auf die Unschuldsvermutung geschissen.

Gefangene, die aus der Zelle wollen, zum Beispiel wenn Arztstunde ist, können in der Zelle die Ampel drücken: mit einem Lichtschalter wird eine Lampe angemacht, die sich außen über der Zellentür befindet. Wenn kein Beamter auf der Station das sieht, hilft nur noch Lärmen: zum Beispiel mit einer blechernen Kehrschaufel gegen die Tür donnern. An der Außenseite der Tür ist übrigens außer dem Namensschild und der Türnummer noch eine Notiz für die Essensausgabe angebracht. Zucker- und Magenkranke kriegen Sonderkost.

In der Mitte der Tür befindet sich in Augenhöhe der Spion, eine Einrichtung, die jeder in umgekehrter Richtung zur Beobachtung von Personen kennt, die geklingelt haben und vor der Tür stehen. Der Zellenspion dient dazu, in die Zelle zu sehen, und besteht zumeist aus einem Weitwinkelobjektiv. Der Gefangene kann auch so gesehen werden, wenn er neben der Tür in der Zellenecke steht oder auf dem Klo sitzt. Wenn man nicht gehört hat, wie sich jemand der Tür genähert hat, kann man in der Regel nicht wissen, wann man gerade beobachtet wird. Im Normalvollzug hier in Diez ist das allerdings immer sehr locker gehandhabt worden. Es wurde akzeptiert, daß die meisten Gefangenen ihren Spion zumindest zeitweise zugeklebt haben. Eine „Kleinigkeit“, die für Gefangene wie so viele, viele andere Kleinigkeiten von sehr großer Bedeutung ist.

Im geschlossenen Vollzug ist die Zellentür immer zu. Wenn sie zur Ausgabe des Essens aufgeschlossen wird oder um den Gefangenen zur Arbeit oder zum Hofgang zu holen, wird sie immer gleich wieder geschlossen. Obwohl „geschlossener Vollzug“ nur besagen sol, daß die Gefangenen rund um die Uhr hinter der Gefängnismauer zu sein haben und nicht wie Freigänger draußen arbeiten gehen können.

Klaus Jünschke: Spätlese - Texte zu Knast und RAF. Verlag Neue Kritik, 221 Seiten, 25,- Mark