Ein gnadenloser Selbstdarsteller

Virtuos bewegte sich Orson Welles in allen Medien. Schon weil er oft die Formen sprengte, ist sein Werk unübersehbar geblieben. Ein Gespräch mit Stefan Drößler, der für das Filmfestival Locarno die Retro „The Magnificent Welles“ organisiert hat

VON ANKE LEWEKE

taz: 1,8 Tonnen schwer ist das filmische Vermächtnis von Orson Welles. Wie muss man sich diesen Nachlass überhaupt vorstellen?

Stefan Drößler: Es ist kein kompletter Nachlass. Das sind Filmmaterialien, die in Besitz von Oja Kodar waren. Sie bekam die unvollendeten Filme von Orson Welles quasi vererbt, weil sie die letzten zwanzig Jahre seines Schaffens als Schauspielerin, Co-Autorin und Beraterin sehr eng mit ihm zusammengearbeitet hat. Den größten Teil des Nachlasses vermachte Kadar dem Münchner Filmmuseum. Was wir haben, sind Berge von Schachteln, Dosen und Kassetten, mit den unterschiedlichsten Filmmaterialien. Manchmal sind es auch nur Töne oder völlig ungeschnittenes Material. Und plötzlich findet man wieder eine Rolle mit fertig gestellten Szenen einschließlich synchronem Tonband. Leider lassen sie sich nicht immer einem bestimmten Filmprojekt zuordnen.

Welche Quellen benutzen Sie bei der Restaurierung der Filme?

Der Prozess gleicht einer Stummfilmrestaurierung. Das heißt, wir nehmen alle Quellen, die uns zur Verfügung stehen. Bei Filmen, die nie fertig gestellt wurden, ist das aber unglaublich kompliziert. Wenn ein Film nicht aufgeführt wurde, kann es keine Kritiken oder andere Besprechungen geben. Wir suchen Drehbücher, Szenenbeschreibungen, Notizen, alles, aber auch alles, was es an schriftlichen Unterlagen zu einem Projekt gibt.

Welles nahm am Schneidetisch permanent Veränderungen vor. Macht das Ihre Arbeit nicht noch schwieriger?

Deshalb sind die Drehbücher alles andere als eine sichere Bank. Wir interviewen Menschen, wie Oja Kadar, die eng mit ihm zusammengearbeitet haben. Aber auch sie waren oft aus dem Schneideraum ausgesperrt. Natürlich ist das Material selbst auch eine Quelle. Wie ist Welles damit umgegangen? Wir haben bei unserer Arbeit ja auch seine vollendeten Filme im Kopf, kennen seine Schnittstrategien und Herangehensweisen.

Könnten Sie das an einem Beispiel konkretisieren?

Nehmen wir den Essayfilm „F for Fake“ aus seinem Spätwerk. Dort kann man sehen, wie virtuos er völlig verschiedene Materialien zusammenbrachte. Um gut schneiden zu können, drehte er möglichst viele Varianten, so dass er in alle möglichen Richtungen weiter montieren konnte. Dabei versuchte er immer, in die Bewegung hineinzuschneiden. Wenn sich ein Gegenstand oder eine Person nicht bewegte, dann eben die Kamera. Wenn wir nun zwei Takes montieren, orientieren wir uns an dieser Schnittpraxis. Wir lassen also eine Aktion nicht unbedingt ausspielen, sondern gehen in die nächste über. Das ist eine Technik, die Welles übrigens schon in seinen Fernsehfilmen in den Fünfzigerjahren verwendete.

Man weiß, dass der Rückgriff auf die essayistische Form in seiner Spätphase auch aus Kostengründen geschah. Damit eröffnete er sich eine neue Bühne.

Welles war ein gnadenloser Selbstdarsteller. Im Essayfilm konnte er sich einbringen, sein Material selbst präsentieren. Etwa bei seiner Stadtexkursion „Orson Welles’ Vienna“, wo er über das Café Sacher spricht, über die Mehlspeisen und die Bewohner der Stadt. Orson Welles hat sich auch an Moby Dick herangewagt: Es gibt Fragmente, in denen er aus seinem gleichnamigen Theaterstück vorliest und alle Rollen selbst spielt. So wie er es früher auch manchmal beim Hörspiel gemacht hat oder in seinen frühen Fernsehfilmen, wo er immer auch als Person in die Handlung tritt, kommentiert und so die Übergänge schafft. Oder denken Sie an den wunderbaren Trailer zu „Citizen Kane“, wo man nur ein Mikrofon sieht und Welles uns alleine mit seiner Stimme in den Bann schlägt. Er liebte es einfach, als Mittler zwischen dem Inhalt und dem Publikum aufzutreten.

Welles hat immer gesagt, dass er Zauberkünstler geworden wäre, wenn es nicht den Film gegeben hätte. Er wollte den Zuschauer stets verführen. War er nicht letztlich ein intellektueller Magier?

Orson Welles versuchte immer, Hochkultur mit populärer Massenkultur zu verbinden. Schon als Schüler schrieb er das Buch „Everybody’s Shakespeare“. Darin editierte er Stücke des englischen Dramatikers so, dass sie für den amerikanischen Massenmarkt etwa für Schultheateraufführungen kompatibel waren. Es wurde ein enorm populäres Buch mit unglaublich hoher Auflage. Seine Shakespeare-Verfilmungen in den Fünfzigerjahren waren sehr umstritten. Laurence Oliviers zur selben Zeit entstandenen Adaptionen sahen aus wie fürs Theater inszeniert. Welles arbeitete hingegen mit den Mittel des Kinos. Wenn er mit seinen Shakespeare-Monologen in eine Talkshow ging oder bei seiner Theatertournee in Deutschland „Faust“ aufführte, dann baute er zwischendurch einfach Zauberkunststücke ein. Und in den Umkleidepausen ließ er Ertha Kitt singen. Dann kann man die Stirn runzeln und sich fragen, wie man das unter einem Hut bekommt? Aber Orson Welles hat das mit unglaublicher Leichtigkeit geschafft. Das war sein Ansatz. Zauberei und Shakespeare, Hokuspokus und Hochkultur.

Waren es wirklich die finanziellen Gründe, die ihn so oft an der Fertigstellung seiner Filme gehindert haben? Es gibt auch die Auffassung, er habe sich in einen Kokon von Visionen und Ideen eingesponnen.

Orson Welles wollte sich nie einem gewissen Zeitdruck aussetzen. Immer wieder führte er die Vergleiche an, dass ein Maler oder ein Schriftsteller sich niemals verpflichten würden, ein Werk in einer bestimmten Zeit zu vollenden. Dieses Recht nahm Welles auch für sich in Anspruch. Genauso nahm er sich heraus, an mehreren Projekten parallel zu arbeiten. Aber ein Film wie „The other Side of the Wind“ ist tatsächlich am Geld gescheitert. Welles, der immer noch im Schneideraum saß und heimlich nachdrehte, merkte plötzlich, dass der Produzent es ernst meinte und den Film fertig stellen wollte. Also klaute er schnell die Arbeitskopie aus dem Schneideraum. Und trotz des unglaublich schönen Drehbuchs bekam er den Historienfilm „The Dreamers“ nie finanziert. Also begann er einfach in seinem Wohnzimmer mit Oja Kadar als Darstellerin zu drehen. Was einfach irrwitzig war.

In dem unvollendeten Film „The other Side of the Wind“, den Welles Anfang der Siebzigerjahre zu drehen begann, spielt John Huston einen Filmregisseur, der es noch einmal wissen will. Wollte Orson Welles mit diesem Film seinen eigenen Werdegang nachzeichnen?

Schwer zu sagen. Aber warum spielte Welles den Regisseur dann nicht selbst? Er äußerte einmal, dass es ein neuer „Citizen Kane“ werden sollte. In dem Sinne, dass er wieder etwas Neues ausprobieren wollte. Der Film war von Beginn an sehr experimentell angelegt und lässt sich deshalb schwer beschreiben. Es geht um einen alten, einst sehr erfolgreichen Regisseur, der schon zur Stummfilmzeit gearbeitet hat. Und der jetzt mit seinem neuen Film noch einmal den Anschluss an das New-Hollywood-Kino versucht. Parallel zu dieser Handlung, die mit dem tödlichen Autounfall des Regisseurs beginnt, sehen wir immer Szenen des Films, den er gerade dreht. Dabei hat man das Gefühl, dass Welles andere Filmemacher oder Stile parodiert. In diesen Momenten hat der Film nichts Autobiografisches. Aber dann gibt es doch wieder Parallellen: Dem Regisseur im Film läuft der Hauptdarsteller weg. In Wirklichkeit ist der Darsteller Rich Little aus Welles’ Film ausgestiegen, weil wie so oft kein Ende der Dreharbeiten abzusehen war.

Ist Ihnen Orson Welles im Laufe der Jahre nun näher gekommen? Oder bleibt er ein unfassbares Phänomen? Ein Regisseur, der immer ferner rückt, je mehr man sich mit ihm beschäftigt.

Es gäbe nicht so viele Bücher über ihn, wenn er leicht zu fassen wäre. Zurzeit gibt es wieder eine regelrechte Renaissance. Gerade dreht Alan Parker einen Film über Welles, nach einem Drehbuch von John Sayles. Und natürlich hat Welles ein unheimlich kreatives Werk hinterlassen, für das es gar kein komplettes Werkverzeichnis geben kann. Ich glaube oder ich bilde mir ein, dass ich Welles durch meine Arbeit nun besser verstehen oder vielmehr seine Arbeitsweise nachvollziehen kann. Ich habe eine unglaublich vielfältige Persönlichkeit kennen gelernt. Von der ich annehmen kann, dass sie noch einige Facetten parat hat. Und Gott sei dank ist noch kein Ende in Sicht.

„The Magnificent Welles“, Retrospektive auf den Filmfestspielen von Locarno vom 3. bis zum 13. August. „The other Side of the Wind“, herausgegeben vom Filmfestival von Locarno und den „Cahiers du Cinéma“ mit Beiträgen u. a. von Stefan Drößler, Bill Krohn, Daniel Kottenschulte, Oja Kodar und einem Interview von Peter Bogdanovich. Buchempfehlung: „Orson Welles“ von Bert Rebhandl, Zsolnay 21,50 €. In seiner Biographie geht es dem taz-Autor auch um den Orson Welles jenseits des Regiekults, für den die Karriere zur endlosen Irrfahrt wurde zwischen der Alten und der Neuen Welt.