Die schönen Mythen des Krieges

Für die Wahrheit über die Judenvernichtung und den Zweiten Weltkrieg interessierte sich lange Zeit kaum jemand. Aus Gründen der besseren Verkaufbarkeit waren schon zeitgenössische Berichte von Augenzeugen verfälscht. Über neue historische Romane, Fakes und Erinnerungen

von HELMUT HÖGE

„Die Scheidelinie zwischen Geschichte und Fiktion ist das erste Hindernis auf dem Weg zur gerechten Erinnerung.“

(Paul Ricoeur)

Auf US-Symposien über das Bezeugen von Zeitzeugenschaft spricht man derzeit geradezu von einer „Hochkonjunktur der Erinnerungskultur“. Gleichzeitig sterben die letzten Überlebenden des deutschen Überfalls auf Osteuropa und der Judenvernichtung langsam aus. Zunehmend haben wir uns mit Berichten aus sozusagen zweiter Hand auseinanderzusetzen. Manchmal merkt man ihnen das nicht an. 1998 wurde bekanntlich das viel gelobte Buch „Bruchstücke“ von Binjamin Wilkomirski, der als Kind die Lager Majdanek und Auschwitz-Birkenau überlebt hatte und dann adoptiert worden war, als Fake enttarnt. Der Autor Bruno Grosjean, Kind Schweizer Arbeitereltern, hielt inzwischen weltweit Vorträge über die Shoah und den Wert von Oral History.

Sein an Gewaltpornografie grenzendes Buch basierte bereits auf einem Fake – der amerikanischen Autorin Grabowski/Stratford, die erst ein Buch über sich als Opfer satanistischer Kinderschänder veröffentlichte und dann ihre Biografie als jüdisches KZ-Kinderopfer. Darüber hinaus war Wilkomirski von Jerzy Kosinskis Überlebensbericht „Der bemalte Vogel“ beeindruckt. Darin heißt es: Diese Erzählung sei nicht „einfach das Produkt von Fakten und Erinnerung“, sondern „weit eher das Ergebnis des langsamen Auftauens eines von Ängsten umkrallten Gemüts“. Kosinski galt bereits als Anwärter auf den Nobelpreis, als man ihn ebenfalls als Lügner und Plagiator entlarvte. 1991 verübte er Selbstmord.

Perfekte Verwandlung

Im Buch „Der Fall Wilkomirski – über die Wahrheit einer Biografie“ des Schweizer Journalisten Stefan Mächler kann man nun diesen ganzen Komplex nachlesen. Mächler sieht die Verwandlung von „Bruno“ in „Binjamin“ als fast perfekt an. Imre Kertész, der als Jugendlicher Auschwitz überlebte, urteilte 1998 über den „Holocaust-Schwindler“ Wilkomirski: „Der Überlebende wird belehrt, wie er über das denken muss, was er erlebt hat, völlig unabhängig davon, ob und wie sehr dieses Denken mit seinen wirklichen Erfahrungen übereinstimmt, der authentische Zeuge ist schon bald nur im Weg, man muss ihn beiseite schieben wie ein Hindernis.“

Dies war gegen das „Shoah-Business“ gesagt, aber das Aufgeben der Authentizität beginnt mitunter schon beim Zeugen selbst: In dem 1944 (!) in New York erschienenen Buch von Jan Karski, der den Alliierten als erster Untergrundkurier der polnischen Exilregierung von der Judenvernichtung berichtete, wird die Story bereits – auf Anraten eines US-Literaturagenten – vom Autor selbst mit einer fiktiven Liebesgeschichte angereichert. Zudem schreibt er von seiner – zeitlich unmöglichen – Beteiligung an den Vorbereitungen für den Warschauer Ghettoaufstand. Und er unterschlägt, dass gerade seine illegal operierende „Heimatarmee“ – im Gegensatz zu den kommunistischen polnischen Partisanen –besonders antisemitisch war und viele untergetauchte Juden tötete.

„Noch Jahrzehnte später stützten sich die Wissenschaftler auf Karskis ,Story of a Secret State‘ als wichtige Quelle für die Geschichte der Endlösung und anderer Kriegsthemen, ohne sich der Lücken und ,Bearbeitungen‘ bewusst zu sein“, schrieben die Autoren Wood/Jankowski 1996 in ihrem Buch über Karski: „Einer gegen den Holocaust“, das jedoch – aus Gründen des US-Antikommunismus – selbst nicht frei von Lücken ist.

Was man als amerikanischen Zwang zur heldischen Verkitschung von Geschichte bezeichnen könnte, wird auf „der anderen Seite“ – im heutigen Russland – als Kriegsmythomanie bezeichnet. Der weißrussische Rotarmist und Schriftsteller Wassil Bykau, der sich mit nichts anderem als mit dem Partisanenkampf gegen die Deutschen beschäftigt und jetzt, nebenbei bemerkt, im Exil in Köpenick lebt, gab neulich der Zeitung Russkij Berlin ein Interview. Darin meinte er: „Bis vor kurzem durfte man die ganze Wahrheit über den Krieg nicht sagen. Das lag nicht an der Zensur oder am dogmatischen Sozialistischen Realismus, die natürlich auch die Literatur unterdrückten, sondern an dem besonderen Charakter des gesellschaftlichen Bewusstseins in der Sowjetunion, das nach dem Krieg eine fast süchtige Beziehung – nicht zur Wahrheit des Krieges, sondern zu den Mythen des Krieges hatte: das betraf die Helden, die Flieger, die Partisanen usw. Diese schönen Mythen waren auch für die Veteranen annehmbar, obwohl sie ihren eigenen Erfahrungen widersprachen. Die Wahrheit über den Krieg war nutzlos und sogar amoralisch.“

Jüdischer Widerstand

Die Forschung hat sich in den letzten Jahren seit dem Zerfall der Sowjetunion und damit der kommunistischen Widerstands-Hegemonie vor allem den jüdischen Kämpfern und den Frauen im Untergrund zugewandt. Die Studien werden immer detaillierter – auf Basis des 1945 von Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman zusammengestellten „Schwarzbuchs“ über den deutschen Massenmord an sowjetischen Juden (1994 von Arno Lustiger auf Deutsch neu herausgebracht); des überaus gründlichen Kompendiums „Jüdischer Widerstand – im deutsch besetzten Osteuropa“ von Reuben Ainsztein (1993 von der Universität Oldenburg übersetzt); und der Erfahrungsberichte aus dem gesamten Widerstand der Juden gegen die Deutschen – von Afrika bis Russland, die Arno Lustiger 1994 unter dem Titel „Zum Kampf auf Leben und Tod!“ veröffentlichte.

Bei der Erforschung des Widerstands der Frauen, von denen viele jüdisch waren, haben sich besonders die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch („Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“) und Ingrid Strobl Verdienste erworben. Erstere wird in ihrer Heimat immer wieder vor Gericht gezerrt, Letztere redigierte 1988 ihr Buch „Sag nie, du gehst den letzten Weg“ in einem Münchner Gefängnis: Man verdächtigte sie der Unterstützung einer feministischen Terrorbande. Besonders ergiebig ist die Quellenlage für das einstige partisanische Bermudadreieck zwischen Litauen/Weißrußland und Polen/Galizien: „Nirgendwo sonst haben so viele beteiligte Frauen während oder kurz nach dem Krieg schriftliche Zeugnisse über den jüdischen Widerstand hinterlassen“, meint Ingrid Strobl, die darüber hinaus viele der Überlebenden befragte.

Die Wurzeln dieses Widerstandsgeistes reichen weit zurück in die osteuropäische Emanzipationsbewegung des 19. Jahrhunderts. So meinte eine feministische Historikerin aus Russland bereits 1921, dass man allein mit den Grabsteinen der dabei umgekommenen jüdischen Frauen die Straße von St. Petersburg bis nach Paris pflastern könnte.

Es ist dieser Geist der auch 1942 wieder in Kommunen organisierten jungen Kämpferinnen, der den Wert ihrer Erinnerungen ausmacht. Erwähnt seien hier die der 1996 gestorbenen Widerstandsorganisatorin von Byalistok, Chaika Grossman: „Die Untergrundarmee“. Sie war zuletzt Alterspräsidentin der Knesset. Ferner das Tagebuch der 1943 von der Gestapo ermordeten Krakauer Ghettokämpferin „Justyna“, das u.a. vom Nürnberger taz-Mitarbeiter Bernd Siegler 1999 neu herausgegeben wurde. Von derselben Autorengruppe erschien soeben auch noch ein Dokumentarfilm nebst Buch über die „Nakam – jüdische Rache an NS-Tätern“. Dabei handelt es sich um eine Gruppe jüdischer Partisanen aus Osteuropa, die nach der Befreiung durch die Rote Armee nicht sogleich nach Palästina auswanderten, sondern als „Rächer“ in Deutschland blieben, wo sie eine Reihe von SS-Offizieren und Nazifunktionären umbrachten. Daneben versuchten sie, die in Nürnberg angeklagten Haupt-Kriegsverbrecher mit Zyankali zu vergiften (siehe taz vom 2. 2. 2000).

Noch immer schreiben Überlebende an ihren Kriegserlebnissen: Mehr als vierzig Jahre arbeitete Thomas T. Blatt an seinem Bericht über den „Aufstand im Vernichtungslager Sobibor – Nur die Schatten bleiben“, der gerade ins Deutsche übersetzt wurde. Die lange Arbeit hat sich gelohnt! Zuvor war dazu bereits der Roman „Flucht aus Sobibor“ eines Lehrers für Creative Writing, Richard Rashke, aus dem Amerikanischen übersetzt worden. Jedes Kapitel beginnt mit einem szenischen Einstieg: „Sich streckend, um größer zu wirken, als er eigentlich war, stand der Junge auf dem weiten, von zwei Meter hohem Stacheldraht umzäunten Platz bei den Männern.“

Glatter Text

Noch kitschiger komponierte dann der Rolling Stone-Autor Rich Cohen seine „wahre Geschichte von Liebe und Vergeltung: Nachtmarsch“, die von der Wilnaer Stadtguerillagruppe, insbesondere den späteren „Rächern“ um Abba Kovner, Ruzka Korczak und Vitka Kempner, handelt. Alle drei gelangten anschließend nach Palästina, wo sie sich einem Kibbuz anschlossen. Der Autor ist der Cousin von Ruzka Korczak, leider ist er allzu juvenil-forsch an die Geschichte herangegangen. Gerade die Wilnaer Gruppe wurde bereits in grundlegenden Arbeiten über den jüdischen Widerstand ausführlich thematisiert, zuletzt 1998 im erwähnten Band von Ingrid Strobl. Es ist hochinteressant, auf diese Weise nach und nach die ganze Partisanengruppe kennen zu lernen. Umso ärgerlicher ist deswegen aber der glatte Text von Rich Cohen.

Als Faustregel gilt vielleicht: Je professioneller, desto leidenschaftsloser – und so ist auch die Wahrheitssuche in diesen Werken. Bis dahin, dass sie nur noch dem Framework eines Bestsellers oder der Deutungshoheit beanspruchenden Political Correctness gehorchen. Womit das Thema – Widerstand – bereits im Ansatz verraten und verkauft wird.

Obwohl die Profischreiber ihre Werke in aller Regel schneller heraushauen, schaffen es doch auch immer wieder stockend geschriebene Erfahrungsberichte, veröffentlicht zu werden. Jüngst erschienen die Memoiren der beiden Warschauer Ghettokämpfer Vladka Meed „Deckname Vladka“ und Simha Rotem „Kazik“ auf Deutsch, davor brachte der Lichtenberg-Verlag die Erinnerungen der ostpolnischen Fotografin und Partisanin Faye Schulman „Die Schreie meines Volkes in mir“ heraus.

Die auf dieses Genre gewissermaßen spezialisierte Schweizer Literaturagentin Eva Koralnik erzählte 1999, auf der Jerusalemer Buchmesse würden ihr jedes Mal „Dutzende von Überlebenden“ ihre Memoiren anbieten: „Jede einzelne Geschichte ist eine Tragödie ... Es ist schwer, ihnen zu sagen: Nein danke, der Markt ist voll.“ Ganz anders sieht der Überlebende und Schriftsteller Imre Kertesz diesen Erinnerungsmarkt, auf dem Auschwitz gerade zu einem, wenn nicht dem Kern europäischer Hochkultur inkorporiert wird: „Wer aus dem KZ-Stoff literarisch als Sieger, d. h. ‚erfolgreich‘ hervorgeht, lügt und betrügt todsicher.“ Primo Levi meinte sogar einmal: „Nicht wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen ... Überlebt haben die Schlimmsten, und das heißt die Anpassungsfähigsten. Die Besten sind alle gestorben.“

Stefan Mächler: „Der Fall Wilkomirski“. Pendo Verlag, Zürich 2000, 365 S., 19,90 DMJochen Kast/Bernd Siegler/PeterZinke: „Das Tagebuch der Partisanin Justyna“. Espresso Verlag, Berlin 1999, 318 S., 39,90 DMJim Tobias/Peter Zinke: „Nakam – jüdische Rache an NS-Tätern“. Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2000, 174 S., 30 DMThomas T. Blatt: „Nur die Schatten bleiben“. Aufbau Verlag Berlin 2000, 334 S., 39,90 DMRichard Rashke: „Flucht aus Sobibor“. Bleicher Verlag, Gerlingen 1998, 442 S., 44 DMRich Cohen: „Nachtmarsch“. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2000, 351 S., 39,80 DMIngrid Strobl: „Die Angst kam erst danach“. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1998, 478 S., 28 DMVladka Meed: „Deckname Vladka“. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1999, 339 S., 48 DMSimha Rotem: „Kazik“. Verlag Schwarze Risse, Berlin 1996, 207 S., 25 DMFaye Schulman: „Die Schreie meines Volkes in mir“. Lichtenberg Verlag, München 1998, 269 S., 36,90 DM