Der Fischer und das Meer. Und der Stahl

WELTWIRTSCHAFT Ein Seemann im Rollstuhl wollte verhindern, dass der Industriegigant Thyssen-Krupp ein Werk in Brasiliens Boden stampft. Heute muss der Fischer im Exil leben. In seiner Heimat tobt der Konflikt

■ Das Projekt: Mit einer jährlichen Produktionskapazität von 5 Millionen Tonnen Stahl, die noch einmal verdoppelt werden soll, ist die ThyssenKrupp Companhia Siderúrgica do Atlântico, kurz TKCSA, in Rio de Janeiro das größte Stahlwerk Lateinamerikas. 27 Prozent der Anteile hält die brasilianische Bergbaugesellschaft Vale, die das Eisenerz beisteuert.

■ Die Gegner: Die meisten Fischer der Sepetiba-Bucht, viele der 25.000 direkten Anwohner, Staatsanwälte, Akademiker, linke Politiker und Globalisierungskritiker. In Brasilien hat sich ein landesweites Netzwerk von Aktivisten gebildet, die von ähnlich großen Erdöl- und Bergbauprojekten betroffen sind: www.observatoriodopresal.com.br.

AUS SANTA CRUZ GERHARD DILGER

Dem Fischer Luís Carlos Oliveira ist das Meer gestohlen worden. Er hängt fest in seinem Versteck, er bohrt Kokosnüsse auf, er knüpft Netze, er kehrt abends in die möblierte Wohnung zurück, die ihm das Menschenrechtsministerium zahlt, seit ein Mann ihn mit der Pistole bedroht hat. Netterweise haben ihm die Leute vom Schutzprogramm einen Küstenort ausgesucht. Aber der liegt weit weg von seinem Zuhause in Santa Cruz im Westen von Rio de Janeiro, wo er Thyssen-Krupp herausgefordert hat, dieses Unternehmen von der anderen Seite der Welt. Er kann nicht mehr raus zum Fischen in die Sepetiba-Bucht, und ein Meer, das man nur anschauen kann, ist nichts für Luís Carlos Oliveira, denn er hat es sich von klein auf erkämpfen müssen.

Vom Wasser her weht ein kühler Wind, aber die Sonne scheint, Oliveira trägt T-Shirt und Shorts. Ein 61 Jahre alter Mann, Brille, die Haare hat er dunkelbraun gefärbt, seine muskulösen Arme fallen auf. Und der Rollstuhl.

Er ist gegen den Konzern aus Deutschland angetreten, der nach Brasilien ging, um Eisenerz gleich dort, wo es vorkommt, zu Stahl zu kochen. Und um den Stahl dann nach Deutschland und die USA zu schaffen, wo die verarbeitende Industrie sitzt. Ein Globalisierungsprojekt: Der Norden bedient sich beim Süden, Reiche bei Armen.

Und Luís Carlos Oliveira sieht heute aus wie der klassische Globalisierungsverlierer. Aber er hat hartnäckig gekämpft, er ist sogar nach Deutschland gefahren und was er und die anderen Fischer angestoßen haben, hört und hört nicht auf. Die Auseinandersetzung nervt den Konzern auch ein Jahr, nachdem die Hochöfen angeblasen wurden. Man kann die Gereiztheit herauslesen, wenn der Pressesprecher von Thyssen-Krupp aus Essen mailt, dass es eine kleine Minderheit sei, die gegen das Stahlwerk agitiere. „Mit immer gleichen Vorwürfen, die jeglicher Grundlage entbehren.“

Dass Oliveira sich als einer der ersten gegen die Übermacht gestellt hat, dass er sich nicht binden lassen wollte, hängt auch mit seiner Geschichte zusammen.

Als Junge bekam er den Polio-Virus. Die Kinderlähmung hat sich ausgebreitet, er wurde operiert und erfuhr, dass er im Rollstuhl leben würde. Gefesselt. Als er neun war, hievten ihn sein Großvater und sein Onkel ins Boot und brachten ihm die Handgriffe bei, die man benötigt, um einen ordentlichen Fang zu machen. Mit 14 fuhr er im eigenen Boot auf die Lagune, mit 18 auf hohe See und mit 35 war er Kapitän des kleinsten Thunfischbootes Brasiliens. Wochen verbrachte er auf dem Atlantik.

Er erzählt gut gelaunt, lächelt, schwärmt. „Das Tollste am Fischen ist die Freiheit.“

„Jetzt geht es ihm richtig gut“, sagt Rose, eine resolute Frau, die tagsüber abwechselnd mit ihm frisches Kokoswasser an Passanten verkauft. „Aber in den ersten sechs, sieben Monaten war das anders“, erinnert sie sich, „da hat er oft gezittert und unter Schlaflosigkeit gelitten“. Damals half ihm eine Psychologin des Schutzprogramms.

Später, am Hafen, fachsimpelt er mit anderen Fischern über Lokalpolitik. War er schon früher ein politischer Mensch? „Eigentlich nicht, aber immer wieder habe ich meine Kollegen organisiert, damit uns die Zwischenhändler nicht gegeneinander ausspielen konnten.“

Im Jahr 2000 kauft er in seiner Heimat Santa Cruz neben dem Haus seiner Eltern ein Grundstück und zieht in die eigenen vier Wände. An einem guten Tag fangen die Fischer zu zweit bis zu 700 Kilo. Pläne entstehen. Sie wollen eine Fabrik für Kühleis bauen und eine zur Fischverarbeitung, dazu eine Berufsschule für ihre Kinder. Doch es kommt anders. 2006 erfährt Oliveira, dass eine deutsche Firma einen Kanal ausbaggern lässt.

Thyssen-Krupp ist ein Milliardenkonzern, er macht Stahl und vieles, was daraus gebaut wird, Raffinerien, Fahrstühle, Luxusyachten, Kriegsschiffe. Standorte in aller Welt, 180.000 Mitarbeiter, 42 Milliarden Euro Umsatz. Es ist ein Gebilde, in dem die Linien der drei deutschen Dynastien Thyssen, Krupp und Hoesch zusammen laufen und der jetzt den Anschluss an die Großen der Welt nicht verpassen will.

Im Boom der Weltwirtschaft, als die Nachfrage nach Stahl steigt, entwickeln die Manager eine Strategie. Statt das Eisenerz um die Welt zu schicken, wollen sie es gleich an Ort und Stelle zu Stahl kochen, in Brasilien, wo sich riesige Lagerstätten befinden. Von den Minen im Landesinneren soll das Erz mit der Eisenbahn zu einem neuen Stahlwerk an der Küste rollen, wo obendrein die Löhne billig sind. Die kolumbianische Kokskohle für die Hochöfen wird an einem eigenen Hafen angelandet, von dem wiederum der Stahl zur Weiterverarbeitung nach Deutschland und in die USA verschifft wird.

Die Wahl fällt 2005 auf die Sepetiba-Bucht, die Heimat des Fischers Luís Carlos Oliveira.

„Sie haben für eine lange Brücke zum Hafen ein Stück unserer Mangrovenwälder zerstört, mit Krustentieren, Krabben und Laichgründen“, erzählt er. „Dort, wo sie die Fabrik bauten, lebten und arbeiteten vorher 75 Landlosenfamilien. Die wurden von Milizen bedroht, dann entschädigt und hinauskomplementiert“.

Mit seinen braungebrannten, kräftigen Armen treibt Oliveira den Rollstuhl den Bürgersteig entlang. Die Milizen. Ein düsteres Kapitel in der jüngeren Geschichte Rios. Auch in Santa Cruz begann es mit Polizisten, aktiven oder im Ruhestand befindlichen, die mit Rückendeckung von Lokalpolitikern und auch vieler Bewohner auf eigene Faust gegen Drogenhändler vorgingen. Das war in den Neunzigern. Dann begannen die Bewaffneten, bei der Bevölkerung Schutzgeld einzutreiben. Geschäftsleute mussten mehr zahlen. Dem deutschen Konzern, sagt Oliveira, hätten sich viele von ihnen als Werkschutz angedient.

Vor Oliveiras Haus erscheinen „Wachschützer“

Erwin Schneider ist Pressesprecher bei Thyssen-Krupp in Essen. Head of Communication, steht unter der Mail, in der er Stellung nimmt. „Lassen Sie mich vor Beantwortung Ihrer Fragen als Präambel Folgendes festhalten“, beginnt sein Schreiben. In Santa Cruz betreibe Thyssen-Krupp mit seiner Tochterfirma CSA das modernste Stahlwerk der Welt. Sein Unternehmen handle nicht nur im Einklang mit allen Gesetzen Brasiliens, „sondern hält darüber hinaus die weltweit aktuellsten Umweltstandards ein“.

Die Sicherheitsleute? Thyssen-Krupp CSA habe nie organisierte Banden oder Milizionäre auf dem Werksgelände beschäftigt, schreibt Schneider. Die Sicherheitsdienste würden von rechtmäßigen, renommierten Firmen ausgeführt. Sie gewährleisteten die Sicherheit der Menschen vor den Gefahren einer Großanlage. „Thyssen-Krupp versichert, dass sichergestellt ist, dass die Sicherheit und die körperliche Unversehrtheit aller Fischer und sonstiger Anwohner geschützt, respektiert und gewährleistet wird.“

Die Umwelt? „Thyssen-Krupp CSA unternimmt alle Anstrengungen, um Fauna und Flora zu schützen.“ Zudem seien die Fischereigesellschaften der Region einbezogen worden. „Die überwiegende Mehrheit zeigte sich mit den Ergebnissen zufrieden.“

Luís Carlos Oliveira hat es anders erlebt. „Thyssen hat einen großen Fehler begangen, anstatt am Anfang auf uns zuzugehen, haben sie die Mangroven zerstört, die Schwermetalle von einer Vorgängerfirma in der Bucht aufgewirbelt und uns wegen der Bauarbeiten am Fischen gehindert. Wir mussten protestieren und uns juristisch wehren“.

Schwermetalle? Man trage keine Verantwortung für die Umweltsünden früherer Betriebe, entgegnet der Konzernsprecher. In der Bucht habe man extra ein modernes und teures Verfahren eingesetzt, um die Rückstände zu entfernen oder innerhalb unterirdischer Höhlen zu lagern. So sei erfolgreich verhindert worden, dass Rückstände aufgewühlt wurden.

2006 beginnt Thyssen-Krupp mit den Arbeiten am Projekt. Die Planer stoßen auf sumpfigen Grund. Als Maschinen und Gebäude versacken, werden unzählige Pfähle in den Boden getrieben. Bevor Stahl gekocht werden kann, wird erst einmal Stahl versenkt. Zehntausende errichten die Riesenanlage. Kokerei, Kraftwerk, zwei Gießanlagen, zwei Hochöfen, Hafen.

Auf Oliveiras Initiative kommt es zu Gesprächen mit den Bauherren, die Sicherheitsleute erkennt er als Verhandlungspartner nicht an. Da tauchen die „Wachmänner“ vor seinem Haus auf. Dann wird ihm Geld fürs Aufgeben geboten. Er verlangt Abfindungen für alle Fischer. Nach einigem Hinhalten lehnen die Manager ab.

Die Proteste laufen, er erhält spätabends Drohanrufe, macht trotzdem weiter. Es ist schwer, einen Mann aufzuhalten, der gegen eine Lähmung kämpft, seit er zwei Jahre alt ist.

Aber nicht unmöglich.

Am Vormittag des 8. Februar 2009 hält mitten in der Stadt ein Auto neben Oliveira. Aus dem halb heruntergelassenen Fenster zeigt der Beifahrer dem Fischer eine Pistole. Die Geste ist unmissverständlich. Er packt ein paar Kleider und Papiere ein und nimmt den nächsten Bus – seither ist er nie mehr nach Santa Cruz zurückgekehrt.

Luís Carlos Oliveira kommen die Tränen, als er von diesem Tag erzählt. Er sitzt jetzt am Stand, vor sich die Kokosnüsse. Hin und wieder bohrt er eine auf und schüttet den Inhalt in einen kleinen, gekühlten Tank. Doch in der Vorsaison ist die Kundschaft spärlich. Deshalb knüpft er auch Fischernetze, er lässt das Schiffchen durch die Maschen sausen.

Er fliegt zu den Aktionären nach Deutschland

Für den Konzern wird das Vorhaben teurer und teurer. Der sumpfige Untergrund. Unzuverlässige Baufirmen. Qualifizierte Arbeitskräfte sind schwerer zu kriegen als gedacht. Und die Proteste der Fischer machen alles mühsam. 2004 war noch von 1,3 Milliarden Euro an Investitionen die Rede. Die Summe wird erhöht. 2009 von 4,7 auf 5,2 Milliarden Euro. Auf der Aktionärsversammlung in Bochum im Januar 2010 räumt der damalige Thyssen-Krupp-Chef Ekkehard Schulz Versäumnisse ein.

In Bochum trifft Schulz auf einen Mann im Rollstuhl. Luís Carlos Oliveira, eingeladen von Rosa-Luxemburg-Stiftung und Linkspartei, ist nach Deutschland geflogen, ins Land dieses Konzerns, eine Welt, in der es die Kinderlähmung schon lange nicht mehr gibt und in der die Küstenfischerei fast verschwunden ist. Der Verband der kritischen Aktionäre überträgt ihm sein Rederecht auf der Aktionärsversammlung.

Am Rednerpult, an dem sich eigentlich Manager präsentieren, spricht nun ein Mann im grobgestrickten Wollpulli, auf dem Kopf ein Mütze. Der Fischer schildert, wie der Bau des größten Stahlwerks Lateinamerikas seine Existenz vernichtet habe.

Er ist den weitesten Weg seines Lebens gegangen, wann gibt es das schon, dass Betroffene aus dem Süden die Verantwortlichen aus dem Norden stellen. Er übergibt Schulz einen Fisch aus Stoff, „denn die echten Fische haben sie uns weggenommen“. Der Manager bietet ihm einen Handschlag an, Oliveira verweigert ihn, die Aktionäre buhen.

Die deutschen Medien haben berichtet, aber dann war der Fischer wieder weg. Fünf Monate später weiht Brasiliens Präsident Lula da Silva das Stahlwerk ein, er preist es als Sinnbild für den „verantwortungsvollen und seriösen“ Wachstumskurs.

2011. Gut eine Stunde mit der S-Bahn liegen zwischen Rios Stadtmitte und den westlichen Außenbezirken rund um die Sepetiba-Bucht. Bald erinnert nichts mehr an das wohlhabende Zentrum mit seinen Touristenattraktionen. Ärmliche, unkontrolliert gewachsene Siedlungen, von Aufschwung keine Spur.

Für die Landesregierung war es einfach, das Milliardenprojekt aus Deutschland im Industriegebiet von Santa Cruz durchzusetzen. Thyssen-Krupp CSA, die „Atlantikstahlgesellschaft“, zu der die einheimische Bergbaugesellschaft Vale als Juniorpartner gehört, feierten die Medien als Prunkstück von Lulas „Wachstumsbeschleunigungsprogramm“. In einer Thyssen-Krupp-Broschüre aus dem Jahr 2009 lobt Umweltschutzdirektor Gunnar Still die zügige Genehmigung der Fabrik in knapp zwei Jahren: „In Deutschland hätten wir ein Vielfaches dieser Zeit gebraucht“. Bei der für die Lizenzen zuständigen Umweltbehörde revanchierte sich das Unternehmen mit einer Millionenspende für die Renovierung der Zentrale.

Im Fischerort Pedra de Guaratiba ist wenig los, in der Nachmittagssonne schaukeln heruntergekommene Boote in der Sepetiba-Bucht. Einer von Luís Carlos Oliveiras früheren Mitstreitern ist Isac Alves. Er trifft sich mit dem harten Kern der Aktivisten in Santa Cruz regelmäßig, sie melden sich mit Handzetteln und in einem eigenen Blog zu Wort. Im Vergleich zu früher fängt er heute bestenfalls ein Viertel, schätzt er. Vor Jahren hat er auch Touristen zu den Inseln auf der anderen Seite der Bucht gebracht. „Doch ebenso wenig wie die Fischerei hat der Tourismus hier noch eine Zukunft“, meint er. „Vor fünf Jahren waren wir über 8.000 Fischer, heute sind es weniger als Tausend.“ Im Stahlwerk arbeiten nicht mal halb so viele Menschen, und nur wenige sind Einheimische.

Hinter dem Zaun donnern die langen Züge mit dem Eisenerz aus den Vale-Bergwerken im Bundesstaat Minas Gerais heran und verdecken vorübergehend den Blick auf das rot-grüne Hauptgebäude mit den qualmenden Schloten und dem Thyssen-Krupp-Logo. Direkt diesseits des Zauns erstreckt sich die erste Häuserzeile von Santa Cruz. Dem Reporter wird der Zutritt zur Anlage „aus Sicherheitsgründen“ verwehrt. Seitdem sich selbst in der großen Tageszeitung O Globo kritische Artikel häufen, werden Journalisten noch mehr auf Abstand gehalten.

Grauer Staub dringt durch die Ritzen der Steinhäuser, in Betten, Küchen, Wohnstuben. Eunice da Silva kehrt ihn jeden Tag zusammen. Im Dezember und August 2010 kam es über Santa Cruz zum „Silberstaubregen“. Das Umweltministerium von Rio verhängte Strafen in Millionenhöhe, drohte gar mit Schließung. Staatsanwälte beantragten Strafen, Urteile stehen noch aus.

Silberstaubregen? Toxische Gase, die die Gesundheit der Bevölkerung gefährden könnten, entstünden beim Betrieb von Stahlwerken gar nicht, schreibt Konzernsprecher Schneider aus Essen. So verhalte sich das auch im neuen Werk in Brasilien. Werde ein Hochofen angeblasen, sei es immer so, dass in der ersten Phase das Roheisen in Abkühlungsbecken gegossen werde. „Dabei kommt es zu Graphitstaubemissionen.“ Die Umweltbehörden seien vorab informiert worden, das Ganze habe sich lediglich im August 2010 ereignet. „Dafür haben wir uns bei den Nachbarn in Santa Cruz entschuldigt.“ Graphit sei völlig ungiftig. „Der Stoff aus dem Bleistifte produziert werden.“

Die Einwohner von Santa Cruz nehmen das anders wahr. „Uns hat es mit Atemkrankheiten oder Allergien erwischt“, berichtet Eunice Silva und zeigt die Küche, wo sie Töpfe und Teller mit Tüchern abgedeckt hat. Auch Hautausschläge, Bindehautentzündungen, Juckreiz und Lungenerkrankungen haben im näheren Umkreis der Fabrik zugenommen.

Die Hausangestellte Ivonete Martins bekam Wochen nach Beginn der Stahlproduktion eine Allergie, beide Beine schwollen an, die Ärzte waren ratlos, sie verlor ihre Arbeit. „Ich habe nur dahinvegetiert, nächtelang vor Schmerzen geschrien, an Selbstmord gedacht“, ruft sie. „Ich sah aus wie ein Hund mit Lepra“.

Schließlich bestätigte der 56-Jährigen ein Arzt, woran sie nie gezweifelt hatte: Die Allergie wurde wohl von dem Staub des Stahlwerks ausgelöst. „Von Thyssen hab ich nie etwas gehört, für die sind wir Armen ja keine Menschen“, sagt die energische Frau. Sie hat sich erholt, aber Rücken und Beine sind von Narben gezeichnet.

Krebs? Thyssen-Krupp verklagt die Forscher

Die renommierte staatliche Fiocruz-Stiftung hat in ersten Untersuchungen auf die Risiken für die Bevölkerung hingewiesen. Im „Graphitstaub“ stellten sie 24 chemische Substanzen fest, darunter giftige Schwermetalle. Drei Forscher verklagte Thyssen-Krupp im Oktober wegen „immaterieller Schäden“, weil sie vor Krebs, Fehlgeburten und Nervenkrankheiten gewarnt hatten.

„Für diese Behauptungen gibt es weder eine medizinische, noch technisch-wissenschaftliche Basis“, schreibt Erwin Schneider, Head of Communication aus Essen. „Noch einmal: Bei CSA ist die weltweit beste Technologie installiert, auch was die Umwelt betrifft.“

Bei der Ombudsfrau von Santa Cruz haben 308 Familien über Gesundheitsschäden ausgesagt, die Staatsanwaltschaft reichte eine weitere Strafanzeige wegen Umweltvergehen ein. Um einen Untersuchungsbericht des Landesparlaments wird noch gerungen. Der Abgeordnete Marcelo Freixo, ein früherer Verbündeter Oliveiras, ist aus Europa zurückgekommen, wo er nach Drohungen Zuflucht gesucht hatte. Ein grüner Parlamentarier fordert, dem Multi die umfangreichen Steuergeschenke zu entziehen.

„Thyssen hat aber immer noch die besseren Karten“, sagt die Ökonomin Karina Kato vom Institut für alternative Politik im südlichen Südamerika, die Oliveira nach Deutschland begleitet hat. „Das Projekt wird politisch gewollt.“

Der Konzern hat sich nicht aufhalten lassen. Das Werk arbeitet. Das Erz rollt heran, der Stahl wird gekocht, wird gegossen, die Schiffe legen ab. Die Schornsteine rauchen. Der CO2-Ausstoß Rios hat sich schon jetzt um die Hälfte erhöht.

Für Luís Carlos Oliveira ist alles weit weg, seine Kontakte nach Santa Cruz werden spärlicher. Es gibt kein Zurück, daheim fragen Milizionäre nach dem Fischer im Rollstuhl, berichten ihm Eltern und Freunde. „Ich habe alles verloren, Haus, Auto, zwei Boote und vor allem das Recht, mich frei zu bewegen“, sagt er. Er und mehr als 5.700 andere Fischer fordern von Thyssen-Krupp eine Entschädigung, doch die Klage steckt im Justizdschungel fest.

Ende November ist die Unterstützung durch das Schutzprogramm zunächst ausgelaufen, aber er ist zuversichtlich, dass er über die Runden kommt, er hat eine bescheidene Behindertenrente. Die Badesaison naht. Drei, vier Monate lang wird er viel Kokoswasser verkaufen. Er wünscht sich ein Grundstück am See, auf der anderen Seite der Stadt. Es wäre nicht das Meer, aber er könnte raus zum Fischen.

Gerhard Dilger, 52, ist Südamerika-Korrespondent der taz