Pfeile weisen den Weg

GRAPHIC NOVEL Marc-Antoine Mathieu skizziert in „Richtung“ eine packende philosophische Sinnsuche

VON RALPH TROMMER

Ein Herr in langem Mantel, mit Hut und Aktentasche. Typus Handlungsreisender, grau und ohne individuelle Note. Der Protagonist von „Richtung“, dem neuen Buch des 1959 geborenen französischen Comiczeichners Marc-Antoine Mathieu, ist ein Verwandter seines Lieblingshelden J. C. Acquefacques – den lässt Mathieu in vielen kafkaesken Versuchsanordnungen die Grenzen des Comics und eines bürokratisch aufs Sinnloseste durchorganisierten Daseins erforschen.

Doch die neue Graphic Novel ist ein eigenständiges Werk mit eigenen Regeln. Auf jeder der 256 in Schwarz-Weiß und Grautönen gehaltenen Seiten gibt es nur ein Bild, auf Text wird ganz verzichtet. Der namenlose Mann ist meist nur von hinten oder schräg von der Seite zu sehen, und wenn von vorne, dann sind seine Augen von der Hutkrempe überschattet. Trotz dieser Beschränkungen folgt der Leser diesem „Helden“ neugierig und ohne Anflug eines Zweifels genauso fügsam, wie dieser den Pfeilen folgt.

Mit den Pfeilen wären wir zurück am Anfang. Die ersten Seiten sind schwarz, dann taucht ein kleiner, weißer Pfeil auf, der zugleich das Licht ist, das durch ein Schlüsselloch in einen dunklen Raum dringt. Der Mann mit Hut sieht erst neugierig durch das Loch, bevor er die dazugehörige Tür öffnet und in eine wüstenähnliche Landschaft hinaustritt. Er geht weiter seinen Weg, und immer wieder trifft er auf Pfeile, die ihm die Richtung weisen. Der Namenlose stellt die Pfeile, die ihm überall begegnen, selbst nie infrage, er folgt einfach immer der vorgegebenen Richtung oder wählt, wenn verwirrend viele Pfeile in verschiedene Richtungen weisen, denjenigen aus, der aus der Reihe tanzt.

Die Pfeile können jede beliebige Größe annehmen und sich jedes Materials bemächtigen, manche würde man kaum als solche wahrnehmen. Doch der geübte Blick des Wandernden entdeckt sie immer, gräbt sie wenn nötig auch aus, um die Richtung zu finden und einzuschlagen. Dabei verändert sich oft die Umgebung. Die Wüste wandelt sich zum Labyrinth, Architekturen tauchen auf, die gelesen oder entschlüsselt werden müssen. Mauern, Städte aus Steinquadern, surreale Mondlandschaften: Überall lauern Pfeile. Selbst der Aktenkoffer des Einzelgängers entpuppt sich als pfeilförmig, und er enthält Kompasse, von denen nur ein einziger funktioniert.

Marc-Antoine Mathieus Geschichten sind stets ein intellektuelles Spiel, auf das sich der Leser einlassen muss. Doch das fällt nicht schwer: die klar konturierten, ohne überladene Details auskommenden Bilder lenken den Blick. Ein Sog entsteht. Der Bildfluss regt zu eigenen Gedanken an, und Mathieu baut, bei aller grafischen Einfachheit, gezielt visuelle Höhepunkte ein, die durch Idee und Ausführung faszinieren. Etwa, wenn der Mann an einer Begrenzung der Welt erst ins Leere fällt, auf einem Papierflieger-Pfeil landet und daraufhin durch die Luft gleitet; oder wenn er hilflos auf einer pfeilförmigen Scholle im Meer treibt, deren fein gezeichnete Riesenwellen an die des Japaners Hokusai erinnern.

Die Motive Traum und Labyrinth sind wesentliche Momente, die Mathieu benutzt, um den Leser auf eine Reise zu schicken. Alle paar Seiten wird dem Leser der Boden unter den Füßen weggezogen – und wie der Protagonist wird er zum Spielball einer absurden Welt, von der unklar ist, ob hinter ihr ein Gedanke steht, ein Schöpfer („Gott höchstselbst“ stand im Zentrum eines anderen Buches von Mathieu) oder ob alles rein zufällig so ist, wie es ist. Das abstrakte Spiel mit dem Pfeilsymbol wird zum Ausdruck der Suche nach einer verbindlichen Richtung, für den Alltag oder für das ganze Leben. Pure Philosophie.

One-Man-Show

Die Richtung wechselt von Tag zu Tag, die stoische, beharrliche Suche jedes Einzelnen nach dem Sinn des Lebens wird deutlich, ohne dass man diesem auch nur einen Millimeter näherrückt, und trotz der ständigen Bewegung, in der sich unser Stellvertreter-Comic-Held befindet. Subtil schlägt der Alterungsprozess zu, und wieder weist ein Pfeil darauf hin, wo die Reise endet.

Marc-Antoine Mathieu ist mit dieser „One-Man-Show“ eine philosophische, weise auf jede Banalität des Wortes verzichtende Bild-Erzählung geglückt, die die unendlich vielfältige wie beliebige, von kulturellen Umständen beeinflusste menschliche Sinnsuche in Bildern fassbar macht und ironisch auf die Spitze treibt. Spaß und Erkenntnisgewinn schließen sich hier nicht aus.

So festigt Mathieu seine singuläre Stellung unter den Comic-Künstlern, indem er dem gängigen narrativen Realismus trotzig etwas Geistreiches entgegenzusetzen weiß und dabei den Leser zu fesseln versteht. Wie in den „Acquefacques“-Comics gibt es auch hier ein nur im Druck funktionierendes „Gimmick“, das möglicherweise zur Entschlüsselung beiträgt – oder zusätzlich Verwirrung stiften will.

■ Marc-Antoine Mathieu: „Richtung“. 256 Seiten, Reprodukt Verlag, Berlin 2015, 29 Euro