Der Koloss am Fluss

BRUTALISMUS Das Ihme-Zentrum ist Symbol fehlgeleiteter Stadtplanung. Am Mittwoch wurde es verkauft – mal wieder

Zum visionären urbanistischen Erneuerungsprogramm Hannovers gehörte in den 1970ern der Bau des Ihme-Zentrums an der Grenze zwischen Innenstadt und dem Stadtteil Linden. Stolz wurden damals Ansichten des klotzig gen Himmel strebenden Unikums auf Postkarten gedruckt. Obwohl das Konzept, ein ganzes Stadtviertel in einem Hochhauskomplex platzsparend zu gestalten – als „Stadt in der Stadt“ –, längst nicht mehr hochmodern war. Aber im Zeichen der autogerechten City schien es sinnvoll, Verkehr und Leben zu trennen. Wenn alle Straßenzüge von Automobilkarawanen durchtost werden, dürfen Menschen nicht stören und müssen, sicherheitshalber, in aufgebockten Insellagen das Wohnen, Arbeiten, Einkaufen verbinden.

Aus dem 23. Stock sind dann auch tolle Ausblicke aufs flirrende Gelichter einer maschinell pulsierenden Großstadt möglich. Aber in den Nachkriegsbauboomzeiten flüchteten viele stressgeplagt aus der verdichteten Isolationsburg – und Kundenströme fluteten nicht die Geschäfte. Das Ihme-Zentrum wurde daher nie ein Leuchtturm, sondern Mahnmal stadtplanerischen Unsinns.

Erst gingen die Ankermieter, dann die Einzelhändler, die Stadt musste leere Büros anmieten. Aus dem Vorzeige- wurde ein Problem-Hochhaus. Schandfleck, Bausünde, Ruine einer falsch verstandenen Moderne, im Verkaufswert fast zur Schrottimmobilie heruntergekommen.

Eine urinös parfümierte Aura umgibt nun das Areal, überall offene Bauwunden, nur notdürftig abgesperrt. Leitungen hängen offen herum, Decken bröckeln, Wände sind beschmiert. In den unteren Etagen regiert Tristesse.

Und nun? Vielleicht könnte das Ihme-Zentrum gleichzeitig Karikatur und Museum des Brutalismus sein, dessen Irrtümer Hannover potenziert. Statt sich aufs Bauhaus zurückzubesinnen, wo eine schöngeistige Designabteilung die Funktionalität veredelte, vulgarisierte Baustillosigkeit. Unsexy bis brutal seelenlos wirkt es, wie Schlichtheit mit nacktem Beton gestaltet ist.

Vorbildlich hatte der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier schon Ende der zwanziger Jahre versucht, damit menschliches Maß und objektive Ordnung zu verbinden und so seiner Sehnsucht nach Ursprünglichem Ausdruck zuverleihen. Er nutzte diesen Béton brut zur skulpturalen Durchformung der Fassaden, setzte mit klaren geometrischen Figuren auf wohlproportionierte Strenge – was im Ihme-Zentrum durch Verwinkelungen, verkantete Schnörkel und Überformungen negiert wird. Tote Ecken zeugen davon. Das alles zu ändern, den Komplex zur Stadt und zum Ihme-Ufer hin einladend zu öffnen, ohne ihn abzureißen, scheint eine Herkulesaufgabe. An ihr versucht sich nun die „Projekt Steglitzer Kreisel Berlin Grundstücks GmbH“, die das Monstrum am Mittwoch für 16,5 Millionen Euro ersteigerte. Klingt, als hätten die Erfahrung. JENS FISCHER