Ein Realist wider Willen

LITERATUR Ein Reaktionär? Yep. Aber auch ein funkelnder Stilist. Jules Barbey d’Aurevilly, dieser ewige Geheimtipp, bleibt immer noch zu entdecken – „Der Chevalier Des Touches“

VON TOBIAS SCHWARTZ

Jules Barbey d’Aurevilly ist einer der Schriftsteller, die heute immer noch vorgestellt werden müssen (und unbedingt sollten). Zumindest in Deutschland blieb ihm eine breite Leserschaft außerhalb romanistischer Expertenzirkel versagt, obwohl er zu den herausragenden Stilisten und schillernden Figuren der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts zu zählen ist. Hinter seinen berühmteren Landsleuten Gustave Flaubert und Guy de Maupassant braucht er sich eigentlich nicht zu verstecken. Eigentlich – trägt er doch selbst mit Schuld an der Misere, hierzulande zum ewigen Geheimtipp verdammt zu sein.

Seit einigen Jahren erscheinen die Werke Barbey d’Aurevillys in schönen, teils illustrierten und mit Essays versehenen Ausgaben bei Matthes & Seitz, darunter sein erster großer, 2007 von Catherine Breillat verfilmter Roman „Die alte Mätresse“ oder die geschliffene Aphorismensammlung „Feinheit des Geistes rührt von Niedertracht“, deren Titel den Verfasser bereits in Ansätzen charakterisiert.

Nun liegt eines der bedeutendsten Werke des erzkonservativen Querulanten auf Deutsch vor, „Der Chevalier Des Touches“. Der komplexe historische Roman erzählt vom Widerstand adliger Partisanen gegen die Französische Revolution und die durch die Guillotine repräsentierte Jakobinerherrschaft. Dem streitbaren Monarchisten und Geschichtsklitterer waren beide stets ein Dorn im Auge.

Gegen Goethe

Schon zu Lebzeiten spaltete Barbey die Gemüter. Zumal bei den Deutschen, denn Deutschland war eines der unzähligen Objekte seiner Verachtung. Das hinderte zwar frankophile Geister und Ironie-Liebhaber wie Heinrich und Thomas Mann nicht daran, zu glühenden Bewunderern seiner Texte zu werden, aber mit einer polemischen Kampfschrift namens „Gegen Goethe“, einem Feuerwerk absurder, dafür umso witzigerer Unsachlichkeit, machte er sich eben nicht nur Freunde.

Adressaten dieser stilistisch funkelnden Abrechnung waren übrigens nicht allein die transrheinischen Nachbarn, sondern vor allem französische Deutschland-Bewunderer wie Madame de Staël oder Barbeys Intimfeind, der auch nicht eben progressive Pariser Literaturpapst Sainte-Beuve.

„Reality is not real to me“, heißt es in einem Song des britischen Pop-Dandys Morrissey. Den Satz würde auch der Autor des „Chevalier Des Touches“ unterschreiben. Der erzählerische Rahmen seines auf wahren Begebenheiten basierenden Romans (den echten, im Alter geistig umnachteten Chevalier Destouches besuchte Barbey in einem Sanatorium) erinnert ausgerechnet an Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“. Auch Goethes Verächter „inszeniert“ die Handlung – die Entführung des zum Tode verurteilten „Widerstandskämpfers“ und seine heroische Befreiung durch die katholisch-königstreuen Chouans – quasi als Kamingespräch: Der alte Abbé de Percy kommt nach Hause und berichtet Freunden und Familienangehörigen, er habe im Nebel ein Gespenst gesehen, den tot geglaubten Chevalier. Sukzessive stellt sich heraus, dass (und wie) die kleine Wohnzimmergesellschaft, die aus Royalisten und adligen Exilrückkehrern besteht, in die Jahrzehnte zurückliegende, abenteuerliche Geschichte verwickelt war.

„Es gibt etwas Besseres als das Reale, nämlich das Ideale“, sagt Barbey über seinen ungeheuer stimmungsvollen Roman, der auch Kabale und Liebe nicht auslässt. Ihm geht es darum, Erinnerungen an alte Zeiten und Helden wachzuhalten respektive zu konservieren – und einer Gegenwart gegenüberzustellen, die ihren Glanz angeblich verloren hat. Kurios und unfreiwillig komisch sind solche konservativ verklärenden Figuren, die zum einen nicht merken, wie ewig-gestrig ihre Positionen sind, und zum anderen, wie sehr sie selbst davon abweichen.

Reine Prätention

In diesem Kontext ist erwähnenswert, dass es sich bei dem adeligen Nimbus dieses Autors um reine Prätention handelt, Barbey d’Aurevilly stammt aus bürgerlichen Verhältnissen. Politisch war der 1808 im Département Manche geborene und 1889 in Paris gestorbene Kulturkritiker klar Antidemokrat, mithin Reaktionär. Der Moderne begegnet er skeptisch-spöttisch, feudalen Zeiten hinterhertrauernd. Von seinem melancholischen Revisionismus – der sich im „Chevalier Des Touches“ widerspiegelt – sollte man sich dennoch nicht abschrecken lassen. Barbeys Brillanz liegt woanders, auch wenn sie wiederum nicht frei von Widersprüchlichkeiten ist.

Stichwort Realismus – die von Flaubert, Turgenjew und Tolstoi vollendete literarische Periode und Geisteshaltung des 19. Jahrhunderts. Barbey hasste ihn und verriss beispielsweise Flauberts „Éducation sentimentale“ 1869 vernichtend (zu viel Wirklichkeit?). Gleichzeitig sind es gerade menschliche Fallhöhen und Abgründe wie bei Flaubert, die auch Barbey umtreiben. Den Realismus, den er so heftig bekämpfte, betrieb und beherrschte er zudem so virtuos wie kaum ein anderer. Gelegentlich mit Augenzwinkern: „Die Augen des Abbé de Percy waren keine Augen: Es waren zwei kleine runde Löcher ohne Brauen, ohne Lider, und die Pupille in diesem Blau, beunruhigend anzusehen (so lebendig war sie!), war so unverhältnismäßig groß, dass nicht der Rand der Pupille sich auf dem Weiß des Auges bewegte, sondern das Licht, das flirrend auf den saphirfarbenen Facetten dieser Luchsaugen rotierte […] Wird man sie sich nach dieser Beschreibung vorstellen können, diese Augen […]?“

Jules Barbey d’Aurevilly war ein meisterhafter Realist wider Willen. Höchste Zeit, ihn aus seiner Geheimtippverdammung zu erlösen.

■  Jules Barbey d’Aurevilly: „Der Chevalier Des Touches“. Aus dem Französischen von Gernot Krämer. Matthes & Seitz, Berlin 2014, 295 Seiten, 19,90 Euro