Die Realität ist immer und überall biegbar

DOKUMENTATION Die Internetseite Oddissee.tv widmet sich Extrem-Außenseitern und ihren bizarren Hobbys

Die Dokumentarfilme von Annikki Heinemann und Anna Piltz porträtieren Angehörige von Subkulturen, aber sie erzählen auch Geschichten über große Einsamkeit

VON PATRICIA HECHT

Der Superheld ist klein und schmal, er trägt die rot-weiße Flagge von England als Umhang und hat ein Stuhlbein in der Hand. Abends klettert er vom Balkon seines Zimmers und balanciert über eine Mauer. Er hält Ausschau nach alten Damen, um sie über die Straße zu begleiten, nach Schlägereien, bei denen er dazwischen gehen kann oder nach sonst jemandem, der Hilfe braucht. Der Held ist erst 15 Jahre alt. Eigentlich lebt er in einem Vorort von London und nennt sich Nova. „Natürlich habe ich keine Superkräfte“, sagt er entschuldigend. Aber trotzdem will er jedem helfen, der Hilfe benötigt.

Nova gehört zur weltweiten Community der Real Life Superheros, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, als Superhelden Gutes zu tun. Er rettet die Welt mit einem Stuhlbein, und er wurde dabei von Annikki Heinemann und Anna Piltz gefilmt. Die beiden 29-jährigen Berlinerinnen betreiben seit einem Jahr die Website oddisee.tv mit kurzen Dokumentarfilmen „off the beaten track“, wie es auf der Seite heißt.

Nackte Bergwanderer

Der Name Oddisee kommt von merkwürdig, seltsam. Das sind alle, um die es hier geht: Nova, der verkleidet durch die Straßen zieht. Nacktwanderer, die nur mit Rucksäcken und Wanderschuhen und sonst nich am Körper in den österreichischen Alpen unterwegs sind oder auch ein Mann Mitte 30, der sein Leben so weit wie möglich in einem Ganzkörperhundekostüm lebt. „Es sind Außenseiter, die sich ihre Nischen geschaffen haben“, sagt Anna Piltz. Mal mehr, mal weniger naheliegend, aber immer voller Überzeugung.

Piltz und Heinemann produzieren ansonsten Image- und Musikfilme für Labels wie Sony und City Slang. Das Interesse an den Extremen von Alltagskultur, sagt Piltz, kam nach und nach. Ein Freund schickte ihr ein Video der Furries, der MenschenTierkostümträger. Im Radio hörte sie von der weltweit existierenden Community der Lichtesser. „Davon waren wir total angefixt“.

Aber Protagonisten ausfindig zu machen, war schwerer als gedacht: Die wenigsten Teilnehmer der Foren, in denen sich Piltz und Heinemann einloggten, wollten zunächst mit ihnen sprechen. „Die meisten hatten die Angst, dass wir sie lächerlich machen würden“, sagt Heinemann. Anders sein war noch nie einfach: Wer glaubt, sich von Licht ernähren zu können, stößt in einer Welt voller Nahrungsmittelesser schnell auf Ablehnung. „Aber die Realität ist biegbar“, sagt Piltz. Und deshalb gilt zumindest hier: Wer glaubt, Lichtesser zu sein, ist einer.

Die zehnminütigen Filme zeigen keine Freaks, sondern Menschen, die sich erklären. Einen Off-Kommentar braucht es nicht, niemand kommentiert, keiner wertet. Und keiner reißt die Masken herunter: Der Furry, der lieber als Tier leben möchte und in seiner mit Hundepostern und Kuscheltieren vollgestopften Wohnung davon erzählt, trägt sein Kostüm, das auch sein Gesicht verdeckt, bis zum Schluss.

Manche haben dabei ganz plausible Gründe gefunden, als Furry oder Lichtesser zu leben und nicht anders. Auch als Zuschauer steht man deshalb hin und wieder davor, das ganze Szenario so komisch gar nicht mehr zu finden. Nacktwandern in den Alpen also. Warum eigentlich nicht?

Gefährliche Clowns

Wie beim Furry jedoch oder bei Kraven, einer 22 Jahre alten Australierin, sind viele Filme zwar Berichte über Nischen- und Subkulturen, zugleich aber auch Erzählungen von großer Einsamkeit. Kraven ist in Sozialwohnungen groß geworden und flüchtet sich aus der Trostlosigkeit ihres Lebens in die Community der Juggalos, die sich schwarz-weiße, traurige Clownsgesichter schminken und Musik hören, deren Texte irgendwo zwischen psychotisch und brutal pendeln. „Wir hassen die Welt für das, was sie uns angetan hat“, sagt Kraven ganz sachlich. „Für mich ist das hier Therapie. Es hilft mir, mein Scheißleben in etwas zu verwandeln, was total abgefahren ist.“

Neben Kravens Heimatstadt Sydney waren Piltz und Heinemann bisher auf Odyssee in London, den österreichischen Alpen, Berlin und Hamburg. „Wenn wir verreisen, versuchen wir das mit einem Dreh zu verbinden“, sagt Heinemann. Sonst wäre das Projekt auch nicht zu finanzieren. Einmal kam Geld bei einer Crowd-Funding-Aktion zusammen, sonst tragen sie die Kosten für Dreh und Produktion selbst. „Im Fernsehen würden wir sowieso in kein Format passen“, sagt Piltz. Auf Festivals schon: Ab November läuft „A Furrytale“ über den Tierkostümträger unter anderem auf dem Berliner Kurzfilmfestival „Interfilm“ und dem Kölner Festival „Unlimited“.

■ Der nächste Film über die Vampirin Lilith ist ab heute online: www.oddisee.tv