„Entscheidend ist der politische Wille“

RECHT UND GESETZ Rechtsanwältin Berenice Böhlo kritisiert, die Ausländerbehörde habe bei den Oranienplatz-Verfahren ihre juristischen Spielräume nicht genutzt. Es ging in der Vereinbarung doch darum, gegenseitige Rechte und Pflichten anzuerkennen

■ ist Jahrgang 1971 und seit 2002 als Rechtsanwältin in Berlin tätig mit dem Schwerpunkt Migrations- und Sozialrecht. Sie ist Mitglied im Vorstand des Republikanischen Anwaltsvereins.

taz: Frau Böhlo, Sie haben als Anwältin einige der 576 Flüchtlinge vertreten, die am Oranienplatz-Verfahren teilgenommen haben. Konnten Sie einem Ihrer Mandanten dadurch zu einem Aufenthalt verhelfen?

Berenice Böhlo: Nein. Es gibt überhaupt keinen einzigen Flüchtling, der über dieses Verfahren einen Aufenthalt bekommen hat. Die drei Fälle, von denen die Innenverwaltung sagt, sie hätten dadurch Papiere bekommen, sind Leute, die geheiratet haben, ein Abschiebeverbot bekommen haben oder Ähnliches. Das hat mit diesem Verfahren nichts zu tun – das hat die Verwaltung bewusst falsch dargestellt.

Hätten Sie das am Anfang, als Senat und Flüchtlinge das Abkommen unterschrieben haben, gedacht – dass es quasi unmöglich sein würde, mit diesem Papier etwas zu erreichen?

Ich war skeptisch, ob es aufgrund dieser Vereinbarung Aufenthaltserlaubnisse geben wird. Aber ich habe es nicht so eingeschätzt, dass die Innenverwaltung in keinem Fall auch nur ansatzweise prüft. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass das Abkommen für die Verwaltung rein gar nichts zählt.

Innensenator Frank Henkel hat immer gesagt, man halte sich strikt an Recht und Gesetz. Wie kann es sein, dass ein Gesetz so unterschiedlich ausgelegt werden kann?

Es gibt zum Beispiel im Aufenthaltsgesetz die Bestimmung: Von der Einhaltung des Visa-Verfahrens kann abgesehen werden. Wir argumentieren: Wenn jemand Teil der Oranienplatz-Vereinbarung ist und im öffentlichen Raum politisch wichtige Fragen artikuliert hat und wenn dieser Jemand hier noch dazu sozial vernetzt ist, sollte von diesem Ermessensspielraum Gebrauch gemacht werden. Zumal sich die Innenverwaltung mit der Vereinbarung zu einer wohlwollenden Prüfung verpflichtet hat. Die Ausländerbehörde und Henkel aber sagen: Wir legen dieses Kann strikt aus. Beides ist möglich, weder unsere Argumentation ist in sich falsch noch die von Henkel. Nur: Was sollte dann die Vereinbarung mit den Flüchtlingen? In der ging es doch darum, gegenseitige Rechte und Pflichten anzuerkennen. Dieses Papier hatte ja eine Bedeutung – sonst hätte man es gar nicht unterschreiben müssen. Im Übrigen hat die Innenverwaltung auch von ihrem Ermessen Gebrauch gemacht und nunmehr für einen ganz kleinen Personenkreis der Oranienplatzflüchtlinge doch Duldungen ausgestellt. Dabei handelt es sich um die, die eine Traumatherapie bei Xenion machen. Im Rahmen des Oranienplatzverfahrens war das zuvor ignoriert worden. Das zeigt doch, entscheidend ist nicht allein das Recht, sondern der politische Wille, wie dieses anzuwenden ist.

Was wissen Sie darüber, was aus den Leuten geworden ist?

Nach wie vor leben viele in der Stadt, hier und dort, teilweise werden sie von der Kirche untergebracht.

Die Residenzpflicht wurde ja auf Bundesebene im November quasi abgeschafft – eine wichtige Forderung der Oranienplatz-Bewegung. Können viele von ihnen damit jetzt nicht ohnehin legal in Berlin bleiben?

Zunächst: Die neue Regelung bedeutet nicht, dass ein Asylbewerber eigenverantwortlich entscheiden kann, wo er leben möchte – oder auch nur, dass er zwei Wochen jemanden in Berlin besuchen geht.

Nein?

Nein. Zwar kann man Besuche machen, aber offiziell bleibt man in seinem Heim gemeldet und hat dort zu wohnen. Den Oranienplatz-Leuten hilft das also nicht. Hinzu kommt, dass auch nach dem neuen Gesetz in vielen Fällen die Residenzpflicht wieder verhängt werden kann.

Viele O-Platz-Leute sind oder waren keine Asylbewerber, sondern haben Aufenthaltspapiere für Italien. Welche juristischen Möglichkeiten haben Sie noch?

Schwieriges Thema, denn hier zeigt sich, dass es nicht wirklich ein europäisches Asylsystem gibt. Im Moment haben wir auf europäischer Ebene eine Anerkennung von negativen Entscheidungen – also, wenn Italien einen Asylantrag ablehnt, kann man in Deutschland keinen mehr stellen. Wenn aber Italien eine positive Entscheidung fällt, also jemandem Asyl gibt, kann derjenige trotzdem nicht die europäische Freizügigkeit genießen. Er kann nur in Italien leben und arbeiten. Wir sagen daher, es muss auch für diese Fälle eine Möglichkeit geben, ein Aufenthaltsrecht in Deutschland zu bekommen. In Italien sitzen die Leute auf der Straße, haben nichts und müssen zu Suppenküchen gehen.

INTERVIEW: S. MEMARNIA

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