Viel Familie und wenig explizite Sexualität

JUNGE REGIE-GENERATION Die diesjährige „Perspektive Deutsches Kino“ setzt auf Selbsterforschung statt auf politische Fragestellungen

Familie in all ihren Ausformungen, das ist die Schnittmenge der „Perspektive“

VON BARBARA WURM

Dass Deutschland sich einmischen könnte ins Weltgeschehen, wird nirgends so kritisch gesehen wie in Deutschland selbst. Darf man nicht, tut man nicht. Im deutschen Kino spürt man diese Haltung: Der politische Film hat eine große Vergangenheit, dafür wenig Gegenwart. Sofern er ab und an aus der Verschüttung auftaucht, kennt er nur links (von der Stasi bis zu den Träumen kurz danach) oder rechts (von Hitler bis Elser). Drunter oder dazwischen scheint’s nicht zu gehen.

Kein Wunder also, dass die junge Regie-Generation, die bei der Berlinale unter dem Label „Perspektive Deutsches Kino“ läuft, sich dem Nichteinmischungspakt anschließt. Wer am Anfang steht, hat viel zu verlieren. Was bleibt, ist der Gang zu sich selbst und die Definition des Ich in seiner Beziehung zum Anderen. Genau diese Selbsterforschung wird dafür im jungen deutschen Film gründlich und versuchsweise radikal unternommen.

Bestes Beispiel ist der großartige Dokumentarfilm „Freiräume“. Ganz auf Gesichter verzichtend setzt Filippa Bauer die Lebensräume von vier Frauen ins Bild, deren Kinder ausgezogen sind. Die Zimmer sind leer, und gleichzeitig wird der filmische Raum frei für die Entfaltung unendlich subtiler Erzählungen über das Alleinsein und über Abwesenheit, Neudefinition, Frausein. Sylvia, Marliese, Rosemarie und Marianna gibt es wirklich.

Sibylle und Wanja dagegen nur im Film. In „Sibylle“ begegnet die nominell zur Hellseherin prädestinierte Titelheldin beim Urlaubsspaziergang am Gardasee einer merkwürdigen Doppelgängerin, die sich vor ihren Augen in den Tod stürzt. In der Folge verläuft ihr eigenes Dasein nach den Psycho-Spielregeln der Paranoia und des Realitätsverlusts, wobei Michael Krummenacher den Horror, der sich munter auf Mann und Kinder ausbreitet, wunderbar präzise entlang der Grenze zwischen Genrekino (i. e. Psychothriller) und Drama entfaltet. Bin das noch ich – oder ist es schon sie?

Die Frage wird sich Anne Ratte-Polle womöglich auch gelegentlich stellen. Sie ist das Gesicht der „Perspektive“ 2015, eine wahre Perspektive fürs deutsche Kino, dem sie, vom Theater kommend, schon mehrmals auch bei der Berlinale angehörte – etwa in Romuald Karmakars „Die Nacht singt ihre Lieder“ oder in „Halbschatten“ von Nicolas Wackerbarth. Als Sibylle zerbricht sie an sich selbst, als Wanja im – ebenfalls nach seiner Protagonistin benannten – Film „Wanja“ (Regie: Carolina Hellsgård) an einer Gesellschaft, die für ehemalige Häftlinge und Ex-Junkies keine Gnade übrig hat. Es sind unglaubliche Nuancen, die Anne Ratte-Polle ihrer Körperlichkeit abgewinnt, zwischen Wut und Frechsein, Verletzbarkeit und Wille. Das Arbeitsamt vermittelt Wanja an eine Tierhandlung, sie selbst will zu einem Trabrennstall. Als vierzigjährige Praktikantin unter Teenie-Pferde-Pros steigt die Entfremdung zunehmend, Geborgenheit stellt sich nur kurzfristig ein und funktioniert mit Tieren besser als mit Menschen.

Familie in all ihren Ausformungen ist so ziemlich die Schnittmenge der „Perspektive“. In „Bube Stur“ sucht Hanna (auch gerade aus der Haft entlassen) zunächst auf einem Bauernhof im Hochschwarzwald Anschluss und später die Nähe einer Familie mit Pflegekind. „Der Bunker“, angesiedelt irgendwo zwischen schwarzer Komödie, Melodrama und Trash, zeigt die Verbrüderung eines studentischen Untermieters und des kleinen Sohnes des Hauses zur Revolte gegen die grotesk herrischen Eltern.

Und es gibt weitere gelungene Beispiele für das produktive Cross-over von Genrekino und klassischen Erzählformaten mit Blick aufs Familiäre, etwa „Homesick“, der vom (vielleicht eingebildeten) Psychoterror der Nachbarn erzählt. Der daraus resultierende Wahn lässt ein Kätzchen in der Waschmaschine verenden und begräbt die Karriere- und Familiengründungshoffnungen einer jungen Cellistin.

Anne Ratte-Polle ist das Gesicht der „Perspektive“ 2015 – und eine wahre Perspektive fürs deutsche Kino

Die Geschichte von den drei Kindern wiederum, die nach dem Abtauchen des Vaters und dem Zusammenbruch der Mutter auszogen, um „Im Spinnwebhaus“ ein Zuhause ohne Eltern zu finden, wird zum modernen Märchen in Schwarzweiß, während die deutsch-australische Koproduktion „Elixir“ die surrealistische Wahlfamilie als Künstlerkommune rund um André Breton und Tristan Tzara im heutigen Berlin imaginiert.

Filmisch besonders perspektivisch – und deshalb auch der Eröffnungsfilm der Sektion – ist Tom Sommerlattes „Im Sommer wohnt er unten“, ein Kammerspiel im Freien, mit zwei ungleichen Brüdern und ihren ungleichen Freundinnen. Wahlverwandtschaften – verlegt ins französische Ferienhaus (wohin sonst). Hier gibt es körperlich-charakterliche Verklemmungen auf dem Zimmer und Unterwasser-Enthemmungen im Pool.

Wie wenig explizit doch am Ende die deutsche Sexualität ist, belegt auch der Abschlussfilm: Saskia Walker und Ralf Hechelmann haben für „Sprache: Sex“ Menschen zwischen 13 und 74 Jahren interviewt, die der gar nicht einfachen Aufgabe nachkommen, über Intimes zu sprechen. Keine Frage, die Leute haben Spaß am Sex, sie haben welchen, und sie wissen sehr gut, in welchem Verhältnis er zu Beziehung, Partner und dem Ich steht. Nur wie sie es genau tun oder wollen, das bleibt dann doch meist: ausgespart, ein Rätsel, also spannend.