Ein Märchen in Leeds

REGIEDEBÜT „Tyrannosaur – Eine Liebesgeschichte“ des britischen Schauspielers Paddy Considine

Die alltägliche Gewalt hat die Moral so weit ersetzt, dass sie zur einzig vermittelnden Instanz geworden ist. Jeder wird sich selbst zur Bestie

Die Welt Josephs erstreckt sich zwischen der eigenen Wohnungstür, Sozialamt und Pub. Irgendwo auf halbem Weg liegt der kleine Wohltätigkeitsshop von Hannah, in den Joseph eines Tages hereintaumelt, um sich vor dem Leben zu verstecken. Er verkriecht sich regelrecht zwischen den Kleiderständern. Der staubige Geruch von alten Kleidungsstücken, der Geruch nach aufgetragenem und verschlissenem Leben, der das schmucklose Geschäft anfüllt, gibt ein vortreffliches Bild ab für die beiden Hauptfiguren in Paddy Considines Regiedebüt „Tyrannosaur – Eine Liebesgeschichte“.

Joseph (Peter Mullan) und Hannah (Olivia Colman) haben sich gesucht und gefunden, nur merken sie es zunächst nicht, weil sie sich vor der Welt verschlossen haben. Er ist allein, nachdem er zu Beginn des Films seinen Hund in einem Wutanfall zu Tode getreten hat. Hannah durchlebt ihre ganz eigene Hölle mit einem gewalttätigen Ehemann. Der Wohltätigkeitsladen, der mit Kruzifixen und Heiligenfiguren vollgestopft ist, stellt alles dar, was sie im Leben nicht findet: Barmherzigkeit, Freundlichkeit, Mitgefühl. Selbst Joseph bekommt seinen Platz zugeteilt, obwohl er auf ihre Fürsorge unwirsch reagiert. Er macht sich über ihren Glauben lustig, nicht ahnend, dass ihr außer diesem Gottvertrauen nichts geblieben ist. Als er am nächsten Morgen wieder vor der Tür steht, begreift er noch nicht, dass Hannahs unerschütterlicher Optimismus in ihm einen längst verkümmerten Nerv getroffen hat.

Mit seinen grauen Arbeiterbauten und den heruntergekommenen Straßenzügen gibt sich „Tyrannosaur“ den Anschein eines typisch britischen Sozialdramas. Doch Considine liegt der Sozialrealismus eines Ken Loach, Mike Leigh oder Shane Meadows, mit dem er in der Vergangenheit gearbeitet hat, fern. Das Stadtbild von Leeds fungiert hier als Märchenkulisse. Zu jedem Märchen gehören eine Moral und, wenigstens im Idiom der europäischen Romantik, Gewalt. Bei Considine verweist eins zum anderen. Die alltägliche Gewalt hat die Moral so weit ersetzt, dass sie zur einzigen vermittelnden Instanz geworden ist. Jeder wird sich in „Tyrannosaur“ selbst zur Bestie, auch die übergewichtige Ehefrau Josephs, deren feste Schritte im Hausflur er mit einem Kosenamen aus Spielbergs „Jurassic Park“ quittiert.

Und wäre das soziale Panorama, das Considine hier entwirft, in seiner zermürbenden Elends-Tautologie nicht schon niederschmetternd genug, errichtet er auf diesem Fundament sogar noch eine unmögliche Liebesgeschichte, die allein von der Gewalt, die sie umgibt (und in der sie schließlich eskalieren wird), zehrt. Man mag das als hoffnungsfroh umschreiben oder ungemein berührend. Es bedarf jedoch auch einer gehörigen Portion Zynismus, seinen Figuren ihre Würde nur zum Preis ihrer eigenen großangelegten Erniedrigung zuzugestehen. Das Gefühl, das einen unweigerlich beschleicht, ist weniger Empathie denn Abscheu. ANDREAS BUSCHE

■ „Tyrannosaur – Eine Liebesgeschichte“. Regie: Paddy Considine. Mit Peter Mullan, Olivia Colman u. a. Großbritannien 2011, 89 Min.