Deutsch ist verrückt

HAUSBESUCH Eva Weil Kroch floh vor den Nazis nach Uruguay. Heute pendelt sie zwischen Frankfurt und Montevideo

VON PADDY BAUER (TEXT UND FOTOS)

Frankfurt-Seckbach, dreißig Minuten von der Innenstadt entfernt. Hier, wo Frankfurt mehr Dorf als Stadt ist, lebt Eva Weil Kroch (85) im Henry-und-Emma-Budge-Heim. Einen Teil des Jahres.

Draußen: Die Bushaltestelle „Budge-Heim/Lohrberg“ liegt vor dem Seniorenwohnheim. Ahornbäume verdecken den Blick. Dahinter ein cremefarbener Sechzigerjahre-Bau. Große Fenster, ausladende Balkone. Die Budge-Stiftung betreibt das Heim, in dem rund 300 Menschen jüdischen und christlichen Glaubens miteinander leben. Gemäß dem Vermächtnis Henry und Emma Budges, die die Stiftung 1920 gründeten, wird hier das Zusammenleben von Juden und Christen gepflegt.

Drin: Im „Betreuten Wohnen“ hat Eva Weil Kroch ihr Appartement. An der Tür ein goldenes Schild mit ihrem Namen und dem ihres Mannes Ernesto Kroch („Ernesto hat hier gar nicht mehr gewohnt, er ist vorher verstorben“). Zwei Zimmer, Küche („Ich koche noch selbst. Immer um 12 in der Kantine sein, näh“), Bad. Im Wohnzimmer keine Bilder, zwei Tische, ein Sofa, Stühle, viele Bücher, ein alter Röhrenfernseher. Auf einem Tisch eine große Weltkarte („Für Politik ist Geografie wichtig, aber ich vergesse immer, wo genau welches Land ist“). Auf einem anderen Tisch ein Laptop („Da hilft mir immer ein Chilene, der wohnt auch hier“). Im Regal Ordner mit der Aufschrift „KZ Lichtenburg“, „Ernst 1“, „Ernst 2“ und „Rübchen“. Einige Kisten stehen im Raum. Unterlagen, Pässe, Bilder und Kopien – Papier, das die Geschichte Evas und Ernestos erzählt.

Was macht sie? Sich politisch und sozial engagieren. „Ich kümmere mich gerade um eine Roma-Familie.“ Es fing mit zwei Euro auf der Berger Straße in Frankfurt an. Eva fragte die Frau „Roma?“ Ein zögerliches „Sí“ – und die Verbindung war da. „Wir unterhielten uns auf Spanisch.“ Sie geht mit ihnen zum Arzt, zum Schulamt und zum Bürgeramt. „Die haben mehr Respekt, wenn ich mitgehe, weil ich alt und deutsch bin und selber Flüchtling war.“ Vor ihrem Geburtstag verteilt sie einen Flyer mit einem Spendenkonto für die Familie. Sie bittet Freunde, Geld zu überweisen, statt ihr etwas zu schenken. Und in Uruguay? Da kümmert sie sich um den Kindergarten Guardería Pasitos Cortos-Ana María Rübens. Ein Ort in Montevideo für Kinder aus armen Familien. Sie organisiert Unterstützung aus Deutschland, schaut nach dem Rechten oder macht Druck bei der Stadt. „Manchmal schimpfe ich auch.“

Was denkt sie? Die Flüchtlingspolitik in Deutschland ist „grässlich“. Sie weiß, wie es ist, zu flüchten. „Für Stuttgart 21 und Flughäfen gibt es Geld, zig Millionen. Für Flüchtlingspolitik – nichts. Nada. Die bräuchten doch ein Dach.“ Sie will solche Diskussionen auch im Heim und organisiert Filmabende und Lesungen.

Eva Weil Kroch: Geboren am 23. September 1929 in Mühlhausen als Tochter jüdischer Eltern. 1938 flüchtet sie ins Exil nach Uruguay. Sie wird Sekretärin, heiratet und bekommt zwei Töchter. 1967 trennt sie sich von ihrem Mann und kehrt das erste Mal nach Deutschland zurück – für ein Jahr. Wieder Uruguay, 1973 der Militärputsch. Eva wird verhaftet und zehn Tage verhört. 1977 flieht sie nach Deutschland und arbeitet für Amnesty International. Während dieser Zeit lernt sie Ernesto Kroch kennen. Er ist Gewerkschafter, wird vom Regime beobachtet, sein Sohn ist bereits inhaftiert („Wir haben mit Amnesty auf die Situation seines Sohnes aufmerksam gemacht“). Sie verlieben sich, 1981 zieht Eva zu ihm nach Uruguay. Die Situation spitzt sich zu. Ernesto wird gesucht. 1982 fliehen sie wieder nach Deutschland. Nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 kehren beide nach Uruguay zurück. Sie engagieren sich in sozialen Projekten in Montevideo und Frankfurt. Ernesto Kroch stirbt im März 2012 in Frankfurt. Und Eva Weil Kroch pendelt weiter.

Heimat? „Ich glaube schon, Uruguay.“ Sie spricht auch lieber Spanisch. „Deutsch ist verrückt. Die sagen hier vierundneunzig, alles verkehrt herum.“ Wenn sie etwas unterstreichen will, folgt dem Deutschen das Spanische. Ich weiß nicht! – No sé! Wozu? – Por qué? Würde sie nicht lieber in Uruguay bleiben? „Nein auch nicht. Es ist komisch. Ich bin zweigeteilt. No sé.“

Ernesto? Sein Nachlass beschäftigt sie. „Er hat so viel geschrieben.“ Die zwei Kisten im Schlafzimmer sind nur ein Bruchteil („In Montevideo ist noch viel mehr“). Sie zeigt Unterlagen. Die Pässe ihrer Eltern aus dem „Dritten Reich“, versehen mit dem roten J für Jude. Einbürgerungsurkunden aus Uruguay. Die Gestapo-Akte von Ernesto. Eintrag von 1935: „Kommunistische bzw. marxistische Betätigung jüdischer Elemente.“ Was für eine Formulierung. Sie kann jetzt darüber lachen.

Alltag? „Ich bin langsamer geworden. Aber es passiert eigentlich immer was.“ Politik, Freunde, Demonstrationen. Die letzte Demo? „Blockupy. Riesen-Schweinerei, dieser Kessel. Ein Freund hat jetzt einen schiefen Zahn.“ Danach hat sie einen Flugzettel geschrieben und an alle im Heim verteilt. Reaktionen? „Einer meinte toll, eine wollte damit nichts zu tun haben.“

Jüdisch sein? Sie glaubt nicht an die Religion. „Ich bin nicht Jüdin, ich bin Mensch.“ Wichtiger als Religion ist ihr politische Arbeit. Wichtiger als das Sein ist das Tun. „Deswegen war ich auch mal bei den Kommunisten, die haben die Arbeit in Uruguay gemacht. Plakatieren, verteilen und demonstrieren.“ Lange ist sie nicht dabei geblieben, eindeutige Zugehörigkeiten sind nichts für sie.

Wie finden Sie Merkel? Lange Pause, irritierter Blick. „Sie ist intelligent, aber hat kein Programm und nicht das Sagen.“ Die Wirtschaft, die Banken, die Lobbyisten seien zu stark. Wenn sie Merkel wäre? Würde sie Bürokratie und „das ganze Quadratische“ abbauen.

Wann sind Sie glücklich? „Ich war glücklich, als wir für die Roma-Familie endlich eine Wohnung gefunden haben.“

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