Die Muslime und der dekadente Westen

Der Westen ist verkommen, die Sitten sind verlottert, die Frau ist das Opfer männlicher Triebe: So sieht es die islamische Kulturkritik, aber auch westliche Selbstkritiker stimmen diesem Bild zu. Dass sich Frauen Kopftücher umbinden und überhaupt aus der Gesellschaft zurückgezogen werden müsse, sei die logische Konsequenz. Erkundungen über Weltbilder von islamischen Fundamentalisten – und ihre westlichen InterpretInnen

VON JÖRG LAU

Die Urszene der modernen islamischen Kritik am Westen spielt in einer Kirche im Mittleren Westen, genauer gesagt in Greeley, Colorado. Ein ägyptischer Beamter namens Sayyid Qutb war vom Bildungsministerium Ende 1948 ans dortige State College geschickt worden, um das amerikanische Bildungswesen zu studieren. In seinen Briefen und Artikeln beschrieb er die amerikanische Kleinstadtgesellschaft. Eine bis heute in der islamischen Welt berühmte Episode betrifft ein Tanzvergnügen in einer der zahlreichen Kirchen von Greeley.

Nach dem Abendgottesdienst, so Qutb, dreht der Pastor die Lichter im Pfarrheim herunter und legt eine Aufnahme von „Baby, it’s cold outside“ auf, um auch die letzten Mauerblümchen auf die die Tanzdiele zu locken: „Der Tanzsaal bebte zu den Tönen des Grammophons und war voller sich verführerisch verschlingender Beine“, schrieb Qutb. „Arme umfassten Hüften, Lippen trafen auf Lippen, Brust schmiegte sich an Brust, und die Atmosphäre war voller Leidenschaft.“

Greeley mit seinen getrimmten Vorgärten erscheint bei Qutb zwar als „so schön, dass man denken könnte, man sei im Paradies“. Metaphysisch aber sind die Mittelwestler obdachlos: „Das wichtigste für diese Leute ist die Gartenpflege, die sie betreiben, wie ein Händler seinen Laden in Ordnung hält oder ein Fabrikbesitzer seine Fabrik. Es steckt kein Schönheitssinn oder künstlerischer Geschmack hinter dieser Aktivität. Es ist die Maschinerie der Organisation und des Ordnens, aller Spiritualität und aller ästhetischen Freuden beraubt.“ Ein andermal schreibt er: „Überall wird gelächelt und überall gibt es fun, und an jeder Ecke Umarmungen und Küsschen. Doch niemals sieht man echte Zufriedenheit auf den Gesichtern.“

In einem Ton, der nicht von ungefähr an die zeitgleich entstehenden Beobachtungen eines anderen unglücklichen Intellektuellen erinnert – Adornos „Minima Moralia“ –, zeichnet Qutb Amerika als zugleich enthemmt und freudlos, materiell reich und innerlich verarmt, aufgewühlt und geistig flach, demokratisch und doch konformistisch. Qutb, 1966 von Nasser hingerichtet, war einer der einflussreichsten Intellektuellen des letzten Jahrhunderts. Nach seiner Rückkehr wurde er zum Chefideologen der Muslimbruderschaft. Sein Werk „Meilensteine“ wurde das Manifest des Islamismus, in dem der Kampf gegen den Westen und seinen Einfluss in der islamischen Welt beschworen wird. Bis heute muss es jeder junge Dschihadist mit geistigem Anspruch lesen. Und weil Qutbs Bild des Westens maßgeblich in Colorado geformt wurde, ist es nicht nur ein Bonmot, von al-Qaidas Wurzeln in Greeley zu sprechen. Qutb war ein Besucher auf Zeit, der nur sechs Monate blieb und nie wieder einen Fuß auf westlichen Boden setzte. Das Bild des dekadenten Westens hat heute auch unter jenen Zuspruch, die längst keine Gäste mehr sind und doch Fremde bleiben.

Zu Beginn dieses Jahres wurden die Ergebnisse einer ersten umfassenden Umfrage unter britischen Muslimen bekannt. Sie zeigen eine tiefe Ambivalenz gegenüber dem Westen, die sich durch moralisierende Kulturkritik Luft verschafft. Die jungen Muslime haben den Eindruck, in einem dekadenten Land zu leben, dessen Freiheiten einen zu hohen Preis fordern und dessen Sitten zusehends verfallen. Wohlgemerkt: Nicht die Älteren beklagen hier wie üblich die Dekadenz der Gesellschaft im Licht einer intakten Vorzeit. Es sind die Jungen, die die Gegenwart verwünschen.

Das ist etwas Neues in der Geschichte der Migration: Statt den Traum der Eltern von Aufstieg und Anerkennung umzusetzen, wendet sich die zweite und dritte Generation moralisch indigniert von der Mehrheit ab und kultiviert Überlegenheitsgefühle. Statt den Kampf um Anerkennung mit der etablierten Mehrheit aufzunehmen, entziehen sie der Mehrheitsgesellschaft ihrerseits die Anerkennung im Zeichen religiöser Gegenidentitäten. Wie sollen die europäischen Gesellschaften damit umgehen, dass ein erheblicher – und wachsender – Teil der Einwanderer und ihrer Nachkommen sie als dekadent ablehnt und das Heil darin sieht, sich von ihnen abzukapseln? Dies trifft nicht nur die britische Gesellschaft ins Mark und führt europaweit zu Ressentiments gegenüber islamischen Einwanderern.

Es ist kaum noch zu vermitteln, dass der islamische Fremde am Beginn der Moderne eine positiv besetzte Figur war. Am Anfang der europäischen Kulturkritik stand die Selbstrelativierung durch den Muslim. Montesquieus „Persische Briefe“ begründen ein Muster westlicher Selbstkritik. In den fiktiven Briefen persischer Gesandter wird all das gnadenlos ans Licht geholt, was im blinden Fleck der Einheimischen liegt. Der Muslim geißelt unseren Obskurantismus, die Oberflächlichkeit unserer Moden, unsere Immoralität und den falschen Pomp unserer Institutionen. Der Fremde ist hier nicht mehr der Barbar, dessen Hinterwäldlertum unserem Größenselbst schmeichelt. Er ist eine Herausforderung an unsere Vernunft.

Montesquieu entwickelt eine aufklärerisch-dialogische Vision universaler Vernunft: Seine Perser lernen in Paris auch die Denk- und Verhaltensweisen ihrer Heimat mit frischen Augen anzusehen und am Hergebrachten zu zweifeln. Die Montesquieu’schen Perserbriefe lassen die Rationalität aus der wechselseitigen Relativierung von Ost und West entstehen. Relativismus, Ironie und Selbstverfremdung im Blick des Anderen sind von da an die Grundlagen der westlichen Aufklärung.

Wie aber sollen wir die Perserbriefe lesen, die die heutigen Soziologen uns in Form von Meinungsumfragen unter europäischen Muslimen vorlegen? 86 Prozent der britischen Muslime zwischen 16 und 24 Jahren sagen, Religion sei für sie „das Wichtigste im Leben“. 37 Prozent wollen ihre Kinder lieber zu einer rein islamischen als zu einer gemischten Schule schicken. 37 Prozent wollen lieber unter der Scharia als dem Common Law leben. 74 Prozent möchten, dass Frauen das Kopftuch tragen. 13 Prozent „bewundern Organisationen wie al-Qaida, die bereit sind, gegen den Westen zu kämpfen“. Für die britischen Muslime hat die Religion eine steigende Bedeutung – und zwar für die junge Generation mehr noch als für die ersten beiden Einwanderergenerationen. Junge Muslime empfinden weniger Gemeinsamkeiten mit Nichtmuslimen als ihre Eltern.

Die neue Religiosität der Jungen ist nicht als Rückkehr zur traditionellen Lebensweise ihrer Eltern zu verstehen. Die Religion der Jungen ist hoch politisiert. Sie ist zu einem Medium der Identitätspolitik geworden. Wo die Älteren sich um Assimilation bemühten, akzentuieren die Jungen in der Öffentlichkeit bewusst ihr Anderssein durch streng islamische Kleidung. Wenn jeder dritte britische Muslim in der Umfrage segregierte Schulen befürwortet, das britische Recht der Scharia unterordnet und sich dafür ausspricht, Apostasie (im Islam „Ridda“, bezeichnet den „Abfall vom Islam“; nach islamischen Recht mit der Todesstrafe bedroht; die Red.) mit dem Tode zu bestrafen, dann ist das ein dramatischer Befund – besonders für ein Land wie Großbritannien, das traditionell betont lässig mit Fragen der nationalen Identität umgeht. Man war gewohnt, die Attraktivität der „Britishness“ schlicht vorauszusetzen. Nun aber sieht man sich einer wachsenden Bevölkerungsgruppe gegenüber, die sich sowohl von der Lebensweise ihrer Eltern als auch vom Mainstream und seinen Normen abwendet.

Die Affirmation der islamischen Identität – so wie die jungen Leute sie verstehen – ist ein im religiösen Gewand daherkommender Akt der Dissidenz. Der emotionale Kern der neuen islamischen Identitätspolitik, wie sie sich in den britischen Umfragen dokumentiert, ist Kulturkritik an der dekadenten westlichen Gesellschaft. Man reklamiert in der Sprache des Kulturrelativismus das „Recht auf kulturelle Differenz“. Ist dieses Recht erst erstritten, greift der moralische Absolutismus einer überlegenen Kultur, an deren Wesen der Westen genesen soll. Dass der verdorbene Westen keine Werte hat, für die es sich einzutreten lohnt, ist der kleinste gemeinsame Nenner der Aussagen, die die britischen Forscher bei den jungen Muslimen einholten. Es gibt Indizien, dass eine repräsentative Untersuchung in Deutschland (warum fehlt sie bisher?) zu ähnlichen Ergebnissen kommen würde. Die jüngste Befragung einer Gruppe von Kopftuchträgerinnen im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung weist in diese Richtung. Die Frauen zeigten sich, analog zu den britischen Muslimen, sehr distanziert gegenüber Deutschland.

Nur wenige haben überhaupt Kontakt zu Nichtmuslimen. Je höher der Bildungsstand, umso geringer die Bindung zu Deutschland, umso stärker die Überzeugung, dass der Islam dem Christentum überlegen und „die Menschen unterschiedlichen Glaubens vor Gott nicht gleich“ seien. Je höher der Schulabschluss, desto häufiger befürworten die Frauen einen Gottesstaat.

Diese Pointe der Untersuchung wurde geflissentlich heruntergespielt. Sie passt nicht ins Bild, das die Kommentatoren gerne sehen wollten. Die Kopftuchträgerinnen werden als Opfer einer voreingenommenen Gesellschaft dargestellt. Die Frauen, schreiben die Autoren, fühlten sich zu Recht „von der deutschen Gesellschaft abgelehnt und diskriminiert“. Aus diesem Grund hätten sie denn auch verständlicherweise wenig Interesse an der deutschen Staatsbürgerschaft. Die deutsche Gesellschaft müsse sich darauf einstellen, dass die Kopftuchfrauen dazugehören, und ihnen „gleichberechtigte Teilhabe“ ermöglichen. Mit einer „reinen Antihaltung“ sei nichts zu gewinnen. In den Medien wurde die Studie als Mahnung dargestellt, das leidige Kopftuchthema endlich um des lieben Friedens willen in Ruhe zu lassen.

Man sieht hier beispielhaft die Weigerung von Teilen der westlichen Öffentlichkeit, ein Nein als Antwort zu akzeptieren. Der Rückzug in die Parallelgesellschaft wird am Ende der aufnehmenden Gesellschaft angehängt. Er wird aus einer gesellschaftlichen Diskriminierung erklärt, die einfach keine andere Wahl lasse. Wenn die Kopftuchfrauen sich von der deutschen Gesellschaft abwenden, so die Logik, kann dies nur bedeuten, dass sie dazu getrieben wurden.

Dass sie sich bewusst gegen Integration und für „kulturelle Differenz“ entscheiden, darf einfach nicht sein. Der politisch korrekte Paternalismus der Kopftuchstudie ist durchaus symptomatisch für die Integrationsdebatte: Ein Akt der Selbstausgrenzung wird am Ende umgedeutet in eine Schuld der Mehrheitsgesellschaft. Die opferorientierte Art des Umgangs mit der muslimischen Kritik am Westen ist fatal, weil sie das Gegenüber letztlich entmündigt. Sie ist im Grunde narzisstisch: Sie bezieht das Integrationsproblem immer auf Versäumnisse der Mehrheit und weigert sich, die islamische Kulturkritik am Westen und den ihr zugrunde liegenden Wunsch nach Differenz ernst zu nehmen.

Nur ein Element ist das Kopftuch – wenn auch ein besonders wichtiges – der islamistischen Symbolpolitik. Es entwickelt sich eine umfassende Alltagskultur mit islamischer Popmusik, islamischen Tele-Muftis und modischen Dschilbabs (Kittelkleid mit Hose), Nikabs (Gesichtsschleier), „Burkinis“ (Ganzkörperschwimmanzug mit eingebauter Kopfbedeckung). Auf einschlägigen Websites werden Anträge auf Befreiung vom Sexualkundeunterricht und von Klassenfahrten zum Download bereitgestellt. Internet-Fatwas vom Online-Scheich bieten in der Diaspora Orientierung.

Kurz: In allen Lebensbereichen wird die kulturelle Differenz neu abgesteckt. Gruppenintern wird freilich aus dem Recht sehr schnell die Pflicht zur Differenz: Bis in die kleinsten Alltagsfragen hinein stellen die Gelehrten ihre Expertise zur Verfügung, wie der Muslim sich gegen die ungläubige Mehrheit abzugrenzen habe.

Auf der populären Website Islamonline etwa bieten sich berühmte Scheichs der arabischen Welt und der Diaspora zum Fatwa-Chat für alle Lebenslagen an. Darf ein Muslim seine Mitmenschen in den April schicken, um sich einen Spaß zu machen? (Nein. Nachahmung des Westens.) Darf ein Schüler ein christliches Mädchen per E-Mail kontaktieren, um sie zum Islam zu bekehren? (Nein. Könnte zu unerlaubten Kontakten führen.) Darf ich einen Lippenstift benutzen, der Alkohol enthält? (Zweimal nein.) Darf ein Muslim als Taxifahrer seine Fahrgäste bei einer Bar oder einem Casino absetzen? (Nur wenn er sonst den Job verliert.) Darf ein Muslim den Muttertag begehen? (Nein. Nachahmung des Westens.)

Eine regelrechte Fatwa-Industrie widmet sich der Islamisierung der Moderne bis ins kleinste und absurdeste Detail. Intimste Dinge werden durchdekliniert. Das ganze Leben lässt sich fein säuberlich in Erlaubtes und Verbotenes einteilen. Immer gibt es eine Episode aus der Vita des Propheten, aus der sich eine Lösung herleiten lässt. Es bleiben keine Fragen offen, jegliche Ambivalenz wird restlos entsorgt.

Wer seine Tochter nicht auf die Klassenfahrt, zum Sexualkundeunterricht oder zum koedukativen Schwimmunterricht schickt, setzt damit ein Zeichen gegen die moralische Verwerflichkeit dieser Veranstaltungen. Das Kopftuch kann nach innen ein Symbol der Rechtgläubigkeit sein, nach Außen ist es praktizierte Kulturkritik am Westen und seiner laxen Sitten. Auch darum erregt es so großen Anstoß in unseren Debatten. Es unterdrückt nicht nur Mädchen und Frauen. Die Sexualisierung jeglichen Kontakts zwischen den Geschlechtern durch das Kopftuch ist auch männerfeindlich. Indem die Verhüllung Mädchen und Frauen zum Sexualobjekt macht, wird auch die Intimsphäre des Mannes verletzt. Der Schleier unterstellt dem männlichen Blick unkontrollierbare Triebhaftigkeit.

Es gibt zweifellos Rassismus und Xenophobie in unseren Gesellschaften. Dennoch ist es töricht, die Wut, die die symbolischen Streitigkeiten über die islamischen Segregationspraktiken begleitet, als „Islamophobie“ abzutun. Die Vorbehalte einer Mehrheit der Nichtmuslime gegen diese Praktiken lässt sich aus als Zeichen dafür lesen, dass die islamische Dekadenzkritik verstanden wurde und ihre moralische Anmaßung zurückgewiesen wird.

Westliche Intellektuelle sind für die muslimische Kulturkritik sehr empfänglich, liegt sie doch teilweise ganz in der Linie unserer Selbstkritik. Das Perserbrief-Schema kann zu einer Falle werden. Timothy Garton Ash kommentierte die Entfremdung der britischen Muslime in der Tageszeitung The Guardian vom 10. August vergangenen Jahres: „Ein möglicher Grund ist, dass England heute eine der libertärsten Gesellschaften in Europa hat. Besonders unter jungen Leuten in den Städten, wo die meisten Muslime leben, wird mehr Alkohol getrunken und herumgevögelt, gibt es weniger intakte Familien und wird weniger gebetet als irgendwo auf der Welt.

Aus den Aussagen der britischen Muslime wird klar, dass ein Teil ihrer Reaktion sich gegen diesen säkularen, hedonistischen, anomischen Lebensstil richtet. Wenn Frauen zu Sex-Objekten reduziert werden, sagen junge Musliminnen, dann bedecke ich mich lieber. Sie pflegen so etwas wie einen konservativen Feminismus. Es ist eine sozial konservative Kritik mancher Aspekte der britischen Gesellschaft, die besonders in ihrer Generation deutlich werden (…) Die Idee, dass diese jungen britischen Muslime in der Tat den Finger auf einige Dinge legen, die nicht in Ordnung sind in unserer modernen, progressiven, liberalen, säkularen Gesellschaft; die Idee, dass vernünftige Personen frei wählen könnten, auf eine andere, äußerlich mehr eingeschränkte Weise zu leben; dies kommt in unseren alltäglichen progressiven Diskurs kaum vor. Sollte es aber.“

Atemberaubend, wie hier der „progressive Diskurs“, Anomie, Komatrinken, Liberalismus, Sexismus und Hedonismus zu einem einzigen großen Verblendungszusammenhang verrührt werden. Die nach dem 11. September oft gestellte Frage – warum hassen sie uns? – wäre damit endlich beantwortet: Weil wir hassenswert sind. Wenn unterm Dirndl gejodelt wird, wächst unterm Kopftuch der Widerstand. Der Schleier ist ein Bollwerk gegen westlichen Sexismus.

Timothy Garton Ash übernimmt im Ton der liberalen Selbstkritik die Argumente der Islamisten. Die Propaganda, mit der der Ajatollah Chomeini die Einführung der Kopftuchpflicht in Iran nach der Revolution begründete, hat ihren Weg bis nach Oxford gefunden.

Die iranischstämmige Autorin Chahdortt Djavann hat das Urmuster der „feministischen“ Rechtfertigung des Kopftuchs im postrevolutionären Iran am eigenen Leib erlebt. In ihrem wütenden Traktat „Was denkt Allah über Europa?“ erinnert sie sich an den postrevolutionären Iran: „‚Muslimische Frauen‘, hörte man da, können sich nur dank der islamischen Gesetze entfalten und emanzipieren, die sie vor der westlichen Dekadenz schützen.

Muslimische Frauen finden ihre Selbstachtung wieder, ihren Anstand, ihren Glauben, ihre Ehre, ihre Identität und ihren Willen, indem sie sich die islamischen Werte zu eigen machen und das Emanzipationsmodell zurückweisen, das nur zur Dekadenz der westlichen Frau geführt hat. Die Frau wird in den westlichen Gesellschaften von der Werbung und der Pornographie auf eine Ware reduziert (…) Unser Schleier beschützt uns, er bestätigt unsere muslimische Identität, unseren islamischen Glauben.“

Der Schah ist besiegt, der Kampf zur moralischen Erneuerung geht weiter – wie in der islamischen Welt, so heute auch im Westen.

Der pakistanisch-britische Autor Sarfraz Manzoor forderte zu Beginn des Jahres im Guardian eine Umkehrung der Integrationsdebatte: Wenn das Land sich frage, „was man einer Kultur weitgreifender Respektlosigkeit entgegenzusetzen hat, dann sollte man in Betracht ziehen, was von muslimischen Werten zu lernen wäre. Muslimische Kinder haben eine größere Chance, in intakten Familien aufzuwachsen als in jenen Haushalten Alleinerziehender, die in Großbritannien immer häufiger werden.“

Manzoor ist ein junger säkularer Intellektueller, der die Popkultur liebt, die den Islamisten als Symbol des westlichen Verfalls gilt. Und doch spielt er ihrer Identitätspolitik in die Hände, indem er von „muslimischen Werten“ spricht. Die britische Gesellschaft, fordert er, solle sich in diese Wertsphäre integrieren statt umgekehrt. Die „homegrown terrorists“ des 7. Juli 2005 seien „so gut in die weiße Gesellschaft integriert, dass sie deren schlimmste Eigenschaften übernehmen. Integration hat sie nicht gerettet, sie hat sie geschaffen.“ Das ist eine elegante Art der Schadensabwicklung. Der islamistische Terror wird zu einer Folge der Dekadenz des Westens erklärt. Der Terror ist in dieser Perspektive eine verzweifelte Form von Kulturkritik.

Die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun erklärt die Bedeutung des Kopftuchs auf die gleiche Weise. In einer umfangreichen Studie rechnet sie die Verschleierung der Frau im Islam gegen die Enthüllung der Frau im Westen auf. Schleier und Kopftuch als „Symbole patriarchaler Unterjochung und eines ‚islamistischen Fundamentalismus‘ zu interpretieren“ diene nichts anderem als der Verhüllung der westlichen Gewalt gegen die Frau: „Wenn bei uns so häufig die Unterdrückung der Frau im Islam und die gegen sie gerichtete männliche Gewalt thematisiert wird, dann scheint das auch die Funktion zu haben, von dem im Westen gegen Frauen gerichteten Gewaltpotenzial abzulenken.“

Der Gewalt, so von Braun, „der der Westen die verschleierte Muslimin ausgesetzt glaubt, steht die Gewalt des westlichen voyeuristischen Blicks gegenüber. Und der Gewalt der Klitorisbeschneidung, die im Westen zu Recht als Menschenrechtsverletzung verurteilt wird, stehen im Westen Schönheitsoperationen gegenüber und die Selbstverletzungen, die junge Frauen (und zunehmend auch Männer) ihrem Körper zufügen.“

Der Osten hat den Schleier, so wägt die Kulturwissenschaft ab, der Westen den Sextourismus: „Zwar gibt es auch dort Prostitution, aber Länder wie der Iran, Libyen, Algerien oder auch das touristisch recht gut erschlossene Ägypten finden sich nicht auf der Landkarte des westlichen Sextouristen. Die einseitige Empörung über die islamischen Zwangsheiraten mag auch diesem verweigerten Handelsverkehr geschuldet sein.“ Zwangsheiraten werden also bei uns skandalisiert, weil der Orient in seiner Keuschheit sich dem westlichen Sextouristen verweigert? Das ist die bisher wohl bizarrste Projektion des eingefleischten Männerhasses der kulturwissenschaftlichen Gendertheorie auf die Islamdebatte.

Das Propagandaschema der Islamisten – islamischer Anstand gegen westliche Verderbtheit – wird von der Kulturwissenschaft als Deutungsmuster des Kulturkonflikts über den Schleier übernommen. Der Schleier ist für Christina von Braun Widerstand gegen den Voyeurblick, mit dem der Westen den Osten penetrieren und und seine Unschuld deflorieren will. Er will dem Osten seine Andersheit rauben, weil der Kapitalismus alles ins Verwertungssystem ziehen muss. Den Frauen den Hidschab vom Kopf zu reißen ist das Symbol der kolonialistischen Landnahme.

Dies ist eine Paraphrase von Frantz Fanon, dem Ideologen der antikolonialen Gewalt. Fanon hatte geschrieben, der abgelegte Schleier „eröffnet den Kolonialisten bislang verschlossene Horizonte und zeigt ihnen Stück für Stück das entblößte algerische Fleisch“. Dadurch wiederum erhöhe sich die Aggressivität des Okkupanten „mit jedem freigelegten Gesicht“. Jeder abgelegte Schleier, so Fanon, „drückt auf negative Weise aus, dass Algerien beginnt, sich zu verleugnen, und dass es die Vergewaltigung durch den Kolonisator hinnimmt.“

Der australische Großmufti Tadsch al-Din al-Hillali sprach im letzten Herbst während des Ramadan über die Pflicht der Frau zur Bedeckung: „Unbedecktes Fleisch“ ziehe die Katzen an, sagte der Mufti. Wird es „ohne Bedeckung draußen auf die Straße gelegt oder in den Garten oder in den Park, dann kommen die Katzen und essen es. Ist das nun die Schuld der Katzen oder des unbedeckten Fleisches?“ Die Empörung war weltweit groß, dass ein einflussreicher Prediger Frauen ohne Kopftuch damit de facto zur Vergewaltigung freigab.

Die Gendertheoretikerin von Braun sieht sich natürlich nicht in einer Argumentationslinie mit dem Mufti. Und doch steht sie darin, wenn sie mit Fanon den Schleier zum antikolonialen Widerstandssymbol und zur Abwehrwaffe gegen den Sexismus verklärt. Der intellektuelle Selbsthass springt einen in beiden Fällen geradezu an: Fanon wurde die westliche Aufklärungstradition, der er seine eigene Bildung verdankte, zum Hassobjekt. Er setzte sie mit dem Kolonialismus gleich. Entkolonialisierung musste entsprechend die gewaltsame Auslöschung des Europäischen bedeuten. Das war nicht nur metaphorisch gemeint. Sartre hat die mörderische Konsequenz des Fanon’schen Denkens auf die knappe Formel gebracht, einen Europäer erschießen bedeute, „zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, einen Unterdrücker und einen Unterdrückten zugleich zu vernichten. Zurück bleiben ein toter Mann und ein freier Mann.“

Wie Fanon die Aufklärung denunziert Christina von Braun den Feminismus, er betreibe die Sache des weißen Mannes, die Durchsetzung der westlichen Lebensweise, mithin kulturellen Kolonialismus: „Am problematischsten ist“, erklärte sie kürzlich in einem Interview, „dass so ein bestimmter westlicher Feminismus sich hinstellt und sagt: Ihr braucht nur so zu werden wie wir, dann seid ihr glücklich.“

Unter dem Vorwand der Emanzipation, so von Braun, soll auch die orientalische Frau noch unter das Gesetz des Kapitalismus gezwungen werden. Lange vor Christina von Braun hat Sayyid Qutb schon das Glücksversprechen der Frauenemanzipation als Korruptionsangebot entlarvt. Qutb beschreibt in seinem berühmtesten Werk, „Die soziale Gerechtigkeit im Islam“, den Vormarsch der Frauen in der westlichen Gesellschaft als „eine Form der Sklaverei und Ausbeutung“. Die Berufstätigkeit der Frau dient letztlich der „Ausbeutung des Geschlechtstriebs der Kunden“. Wenn Frauen in der Wirtschaft, in der Regierung und in den Medien vorwärtskommen, geht es letztlich darum, die Attraktivität der Frau zu benutzen. Und wir wissen, suggeriert Qutb mit einem wissenden Zwinkern an die Herrenwelt, „was sie geben muss, um ihren Erfolg zu erreichen“. Selbst „wenn sie nichts geben muss – was unwahrscheinlich ist –, wissen wir, welche hungrigen Leidenschaften und gierige Augen ihren Körper zu verschlingen drohen“.

Der Begründer des modernen Islamismus schaut mit einem Pornografenblick auf die westliche Öffentlichkeit und die zunehmend selbstbewusst darin agierenden Frauen. Für diesen Blick ist das Büro oder der Laden, in dem männliche und weibliche Angestellte als Kollegen miteinander arbeiten, nur als eine Art Bordell denkbar. Es handelt sich hier gewissermaßen um das okzidentalistische Reversbild der orientalistischen Haremsfantasien.

Immerhin werden zunehmend Einsprüche gegen die fatale Allianz unserer einheimischen Kulturkritik mit der islamischen Dekadenzkritik erhoben. Es melden sich neuerdings immer mehr störende Stimmen, die dieses Spiel durchkreuzen. Eine darunter gehört dem Journalisten Akbar Gandschi, einem früheren Leibwächter des Ajatollah Chomeini, der seit Jahren im Iran verfolgt und drangsaliert wird, weil er die moralische Prätention der Islamisten in Frage stellt.

Welche Gesellschaft ist moralischer, fragt Gandschi, die islamische Gesellschaft, die Frauen reglementiert und segregiert, oder die westliche, die ihnen Freiheit gibt: „Warum konnten Mädchen und Frauen vor der Revolution öffentliche Verkehrsmittel ohne Probleme benutzen? Warum haben sie seit der Revolution solche Probleme, dass nicht einmal die erzwungene Geschlechtersegregation in den Bussen sie noch schützt? Frauen wollen nicht als Sexobjekte gesehen werden, doch die Islamische Republik hat sie darauf reduziert. Frauen sind überall das Ziel verschlingender Blicke.“

Das Qutb’sche Bild des verkommenen Westens, das sich in den oben zitierten Umfragen als mehrheitsfähig dokumentiert, wird jüngst von einer ganzen Reihe von Autoren in Frage gestellt, die selbst einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Die deutsche Grünen-Abgeordente Ekin Deligöz gehört dazu, die im letzten Jahr die Musliminnen aufrief: „Legt das Kopftuch ab! Kommt im Heute an.“ Ebenso die Islamforscherin Necla Kelek, die in der taz forderte: „Muslime, lernt die Freiheit des Einzelnen lieben!“

Kritische Musliminnen im Westen wissen die Freiheit mehr zu schätzen als die Einheimischen – und zwar selbst dann, wenn sie sich als Freiheit zum selbstgemachten Unglück entpuppt. In Frankreich hat sich eine Initiative gegründet, die Mädchen und Frauen in den Vorstädten ermutigt, sich „weder als Huren noch als Unterworfene“ behandeln zu lassen. Die in Amerika lebende Syrerin Wafa Sultan sagt, es sei irreführend, von einem Kampf der Kulturen zu sprechen: „Es ist ein Kampf zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen Demokratie und Diktatur. Es ist ein Kampf zwischen Menschenrechten und ihrer Verletzung. Es ist ein Kampf zwischen denen, die Frauen wie Tiere behandeln, und denen, die sie wie menschliche Wesen behandeln.“

Die ägyptische Journalistin Mona Eltahawy meint, der 11. September sei „gut für die Muslime“ gewesen, weil auch sie sich nun der Frage stellen müssen, warum die Islamisten uns hassen: „Wann immer ich einen Fernsehmoderator diese Frage stellen höre“, so Eltahawy, „rufe ich: Mich hassen sie auch!“

Die meistgehasste dieser mutigen Frauen ist die aus Somalia stammende Niederländerin Ayaan Hirsi Ali, die mittlerweile in den USA lebt. In ihrer Biografie hat Hirsi Ali ihre Erfahrung mit dem Ablegen des Kopftuchs beschrieben. Sie war sehr streng erzogen worden und hatte in Afrika zeitweilig selbst der Muslimbruderschaft nahegestanden. Nach ihrer Ankunft in Holland wird sie von christlich-äthiopischen Freundinnen herausgefordert, das Tuch abzulegen. Nach langem Zögern wagt sie es eines Morgens: „Absolut nichts passierte. Die Gärtner schnitten weiter die Hecken. Niemand bekam einen Anfall. Nun, diese Männer waren Holländer, also vielleicht keine wirklichen Männer. Ich ging an Äthiopiern und Männern aus Zaire vorbei, doch niemand beachtete mich. Also ging ich zu den Bosniern. Niemand sah mich an. In Wahrheit zog ich weniger Aufmerksamkeit auf mich, als wenn ich mein Haar bedeckt hätte. Kein einziger Mann drehte durch.“ Ayaan Hirsi Alis holländische Initiation ist ein treffendes Pendant zu Sayyid Qutbs Urszene aus Greeley. Ein bisschen enttäuscht ist die schöne junge Frau anfangs schon, dass nicht einmal die islamisch geprägten Bosnier verrückt spielen, als sie ihre Haare zeigt. Dann aber lernt sie es schätzen: „Mit meinem Haar im Wind herumwandelnd, fühlte ich mich irgendwie größer.“

Frei herumspazieren kann sie schon lange nicht mehr. Ayaan Hirsi Ali lebt – wie viele der oben Genannten – unter Polizeischutz. Erst wenn Muslime diesen Zustand als ein Dekadenzsymptom ihres Glaubens ansehen lernen, werden die Dinge besser werden.

JÖRG LAU, Jahrgang 1964, Redakteur bei der Wochenzeitung Die Zeit, war von 1993 bis 1996 Kulturredakteur der taz. Sein Text ist die gekürzte Fassung eines Aufsatzes in dem mit „Kein Wille zur Macht –Dekadenz“ betitelten Sonderband des Merkurs – „Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“, Klett-Cotta, Stuttgart 2007, 910 Seiten, 19 Euro Literatur: Lawrence Wright: „Der Tod wird euch finden. Al-Qaida und der Weg zum 11. September“. DVA, München 2007, 544 Seiten, 24,95 Euro. Ayaan Hirsi Ali: „Ich klage an. Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frau“. Piper, München 2006, 213 Seiten, 7,95 Euro