Das Medienhaus an der Rudi-Dutschke-Straße | LeserInnenbriefe. NutzerInnenverhalten. Familienbilder.

Polemiken vor Recherchen

INTERNET Durch den Einfluss von Facebook ändert sich derzeit dramatisch, wie die Online-LeserInnen zu taz.de kommen – und was sie dort anklicken

Die fünf meistgeklickten Texte auf taz.de im Jahr 2014:

■ 1,3 Millionen Zugriffe: „Respektlos im Siegesrausch“, Kommentar zur Fußball-WM-Feier

■ 936.000: Polemik gegen Latte-macchiato-Mütter im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg

■ 897.000: Kolumne „Kampfplatz mit Brüsten“ zur Emanzipation

■ 520.000: Kolumne von Deniz Yücel mit mysteriösen Fakten zu Flug MH17

■ 418.000: Wahrheit-Artikel, laut dem Tofu aus Fleisch besteht

Mehr dazu im taz-Hausblog: blogs.taz.de/hausblog/

VON SEBASTIAN HEISER

Unsere Online-Redaktion gewichtet auf der Startseite von www.taz.de die Themen, die zur jeweiligen Stunde die relevantesten und interessantesten sind. Doch immer weniger Online-LeserInnen schauen sich diese Startseite an.

Stattdessen verbringen sie mehr Zeit auf Facebook und klicken dort auf einzelne taz-Artikel, die ihnen von ihren Freunden empfohlen werden. Das können wir genau messen: Rund 4 Millionen Mal wird taz.de derzeit im Monat besucht. Vor eineinhalb Jahren kamen noch 6 Prozent der Zugriffe über soziale Netzwerke wie Facebook – jetzt sind es 28 Prozent. Der Wandel geht rasend schnell, und wir sind gerade mittendrin.

Die Konsequenzen sind schon jetzt spürbar: Wir haben immer weniger Einfluss darauf, welche unserer Artikel die LeserInnen lesen. Unsere Online-Redaktion kann zwar einen Artikel ganz oben auf der Startseite von taz.de platzieren – aber die Mehrheit der LeserInnen beginnt ihren Besuch auf taz.de inzwischen nicht mehr auf der Startseite, sondern kommt über einen Link. Ob ein Text wirklich viel Aufmerksamkeit bekommt, entscheidet sich daher inzwischen auf Facebook. Je nach Betrachtung führt dies zu einer Demokratisierung (weil jetzt die Leser entscheiden, welche Artikel sie teilen) oder Monopolisierung (weil Facebook nicht alle geteilten Artikel aller Freunde anzeigt, sondern mit seinen Algorithmen eine Auswahl trifft).

Auffallend ist, dass die erfolgreichsten Texte auf taz.de immer mehr LeserInnen finden. Sie werden auf Facebook immer weitergereicht und weitergeteilt und erreichen so auch Leute, die sonst nie auf unsere Seite kommen würden. Im Jahr 2013 hatte der bestgelesene Artikel des Jahres noch 185.000 LeserInnen – 2014 kam der Spitzenreiter bereits auf 1,3 Millionen Leser. Es ändert sich auch, welche Art von Artikel die meisten LeserInnen finden. Im vorvergangenen Jahr waren das Recherchen zu politischen Themen.

Jetzt finden sich in den Top Ten ausschließlich Kommentare, Satiren, Kolumnen und Polemiken. Der Artikel auf dem ersten Platz zum Beispiel ist ein Kommentar, die Autorin kritisiert darin die Kommerzialisierung und den Gaucho-Tanz bei den Feierlichkeiten nach dem Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft der Herren. Viele Fans der deutschen Mannschaft fühlten sich davon angegriffen und empörten sich darüber. Das zeigt: Der Kommentar hat genau die Fans getroffen, gegen die er gerichtet war. Noch vor ein paar Jahren hätten wir keine Chance gehabt, diese Zielgruppe zu erreichen.

Natürlich wäre es uns lieber, die LeserInnen würden anschließend auch noch die Recherche über Kinderheime lesen. Aber das ist nicht unsere Entscheidung. Und natürlich ist es weitaus besser, wenn jemand unsere Polemiken und die Satiren von der Wahrheit-Seite liest, als wenn er gar nichts von uns mitbekommt. Übrigens tippen wir darauf, dass die Klick-Hitliste bei der FAZ, beim Spiegel oder der Süddeutschen Zeitung nicht anders aussieht. Aber die Liste ist dort leider Betriebsgeheimnis – die taz ist die einzige Zeitung, die hier Transparenz schafft.

Viele profitorientierte Verlage machen derzeit ihre Inhalte nur noch gegen Bezahlung zugänglich. Oder sie beschränken den kostenlosen Zugriff auf wenige Artikel pro Monat. Für einen inhaltsorientierten Verlag wie die taz ergibt das keinen Sinn. Wir wollen schließlich nicht unseren Gewinn maximieren, sondern unsere LeserInnen. Und mit keinem Medium kann man auf so günstigem Wege so viele LeserInnen erreichen wie im Internet. Es ist kein Zufall, dass die taz im Jahr 1994 das erste deutsche Print-Medium war, das alle Inhalte auch online veröffentlicht hat. Solange die Einnahmen der taz insgesamt stabil bleiben, können wir uns das weiter leisten.

Sebastian Heiser, 35, ist Redakteur der taz und Autor des taz-Hausblogs