Wer soll das alles lesen?

EXPERIMENT Eine Hamburger Journalistin hat ein Magazin erfunden, das von Behinderten gemacht, aber für alle gedacht ist. Noch ist unklar, ob das lifestylige Magazin über die Nullnummer hinauskommt

„Toll“ ist ein kurzweiliges Durcheinander in gedeckten Farben

Emanzipation läuft in Gesellschaften wie unserer meist nach festem Schema ab: Nach der Verfolgung kommt das Ghetto, nach dem Ghetto kommt Ausbruch. Einen solchen, der sich gern auch Integration bzw. Inklusion nennen kann, will die Hamburger Journalistin Sylvia Heinlein initiieren.

Wie sie das macht? Sie bringt heute eine Zeitschrift auf den Markt, die, so glaubt Heinlein, weltweit ihresgleichen sucht: Toll, geschrieben von Menschen mit Behinderung, gedacht auch für alle anderen.

Bislang, betont die Chefredakteurin, seien erstere schließlich bestenfalls Objekte der Medien, nie Subjekte – „sofern überhaupt mal berichtet wird“. Ihr Magazin dagegen sei ein ernst gemeintes Angebot der Betroffenen, ohne auf Betroffenheit zu pochen, das heißt: ohne ständig von Behinderung zu reden.

Die 30-köpfige Redaktion im Hamburger Stadtteil Eidelstedt füllt somit eine Marktlücke und leistet zudem Hilfe zur Selbsthilfe. Denn auch die Menschen auf der Straße begegneten Behinderten meist auf dreierlei Art: „Glotzen, weggucken, helfen“, sagt Heinlein. Toll nicht.

Und so gerät die Nullnummer auf 48 Seiten zu einer quirligen Mischung aus Fanzine und SZ-Magazin. Da formulieren die Autoren schlaglichtartig ihre Vorstellungen von Coolness („Clooney, Connery, unser Bundestrainer“). Da modeln Leute mit Handicap, wie es im Englischen heißt, in lässiger Streetwear. Da präsentiert das Hip-Hop-Trio „Fettes Brot“ ein Video im Rollstuhl. Da geht es um Alltägliches wie das Wetter und Besonderes wie den Ausflug ans Meer. Da schreibt der Pflichtpromi Christoph Maria Herbst in der Schlusskolumne, dass Schauspieler im Grunde wie die Toll-Macher behandelt werden wollen – „ohne Aufhebens“ nämlich. Und rings um Fotostrecken, Alltagsgeschichten oder Konsumtipps ist alles hübsch und arglos, versiert und empathisch.

Ein bisschen textarm ist das Heft vielleicht, ein wenig ziellos –liebevoll zwar, aber leicht redundant. Toll ist ein kurzweiliges Durcheinander in gedeckten Farben wie so viele Lifestyleprodukte in deutschen Kioskregalen.

Lifestyle? Sylvia Heinlein zögert. „Durchaus“, sagt sie dann, verweist aber gleich auf den Untertitel: „Magazin für Wundertage“. Und davon braucht sie wahrscheinlich ein paar mehr, damit Toll über den Dummy hinauskommt. Denn die Frage bleibt ja: Wer soll das lesen? Welches ist die Zielgruppe? Und wie kriegt man Toll da bloß hinein?

Zum Start ist das dünne Heft mit der knapp sechsstelligen Auflage nur online oder per Mail zu beziehen – als seriöses Startexemplar in Papierform, aber auch als Teaser für den Weitervertrieb. Denn das spendenfinanzierte Magazin, dem bislang gerade mal fünf Anzeigenkunden die leere Kasse füllen, ist noch auf der Suche nach einem renommierten Partner. Der gemeinnützige Verband „Leben mit Behinderung“ zieht sich nach dem Kraftakt der Nullnummer überlastet zurück, freier Verkauf zu kostendeckenden Preisen wäre illusionär. Derzeit bemüht sich die Redaktion um eine Premium-Zeitschrift, der die Toll nach Art von Chrismon jedes Vierteljahr beigelegt wird. „Wir sind da in Verhandlungen“, sagt Sylvia Heinlein, die selbst lange mit Behinderten gearbeitet hat. Optimistisch klingt sie dabei nicht. Eher trotzig. JAN FREITAG

www.toll-magazin.de