Das Urteil kann warten

POETIKVORLESUNG Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich zelebriert in seinem Buch „Des Geistes Gegenwart“ eine konsequente Kunst des Misstrauens. Mit seiner eigenen Disziplin springt er wenig zimperlich um und bietet sogar sich selbst einer kritischen Lesart an

Aufklärungsarbeit gelingt allein als Zeitgenossenschaft. Wer zwischen sich und dem, was er verstehen will, nicht ständig einen Abgrund wittert, der kann gelassen hin und her schauen

VON ELISABETH WAGNER

Man kann nicht sagen, dass er sich Mühe gibt, besonders sympathisch zu wirken. Eitel sei er, ehrgeizig. Er verspüre einen „Drang nach Thesen“. Dazu komme der Neid, wenn er an diejenigen denke, die eine Poetikvorlesung halten dürfen. An Dichter und Schriftsteller, die ja traditionell für diesen Job in Frage kommen. Offensichtlich konnte er die Benachteiligung nicht mehr aushalten. Wolfgang Ullrich – unbescheiden also auch noch – hat sich selbst eingeladen.

„Meine Damen und Herren“ – spätestens hier sollte man darauf hinweisen, dass diese Vorlesung eines der, wie gesagt wird, brillantesten Kunsthistorikers des Landes in Wahrheit gar keine ist. Sie ist eine Wunscherfüllung, eine Simulation in Buchform. Verhandelt wird dabei Grundlegendes.

Geraune ist verboten

Eine Poetik formuliert Regeln und Wirkungen. Sie begründet das eigene künstlerische, in diesem Fall das eigene theoretische Handeln. Das ist ein riskantes Unternehmen. Immerhin wird die künstlerische, wissenschaftliche Praxis ziemlich durchsichtig gemacht. Jedes sprachliche Geraune, alles Unken und Ahnen ist verboten. Genauso größere Lücken, vorschnelle Schlüsse in der Argumentation. Kurz, eine Poetik ist ein Meisterstück.

Nun ist Ullrich tatsächlich ein begnadeter Rhetoriker mit einer innigen, fast hörigen Liebe zur Eleganz. Beim Lesen dieser Vorlesungen (fünf sind es an der Zahl) stellt man sich deshalb vielleicht eine Ballettmeisterin als seine Lehrerin vor. Sie trägt ihr Haar streng zurückgekämmt und legt allergrößten Wert auf Präzision. Die Sprache, sagt sie, müsse mühelos und heiter erscheinen. Selbstverständlich sei das nur mit äußerster Disziplin zu erreichen. Die Eleganz wird zufrieden mit diesem Buch ihres Schülers sein.

Es heißt übrigens „Des Geistes Gegenwart“, wobei die Betonung auf dem zweiten Hauptwort liegt. Das Erkenntnisinteresse gilt der Aktualität, dem Jetzt, das anders als in kulturkritischen Verfallsgeschichten des Geistes würdig befunden wird.

Damit keine Missverständnisse aufkommen. Ullrich beschreibt die Gegenwart seiner Wissenschaft in wenig schmeichelhaften Farben. Die Poetik öffnet eine Trickkiste der Bedeutungsvermehrung. Ein Kurator zum Beispiel wertet ein unbedeutendes Kunstwerk dadurch auf, dass er es in Nachbarschaft eines etablierten Meisterwerkes zeigt. Ein Kunsthistoriker rückt ein winziges Detail in den Zusammenhang mächtiger Diskurse. Das Detail wird dadurch riesig, der Wissenschaftler lässt dem armen, schmächtigen Detail gar keine Wahl. „Du musst mehr bedeuten“, befiehlt er, und exakt gegen diese herrschenden marktkonformen Imperative der Akkumulation wendet sich Ullrichs poetologische Arbeit. „Ich sehne mich nach Ernüchterung und Entsorgung, habe Anwandlungen semantischer Askese“, schreibt er, „sähe mich gern als Held, der mit einem Minimum an Bedeutung auskommt.“

Diese intellektuellen Skrupel verdanken sich offensichtlich starken philosophischen Denk- und Leseerfahrungen. Kunstgeschichte und Logik hat Ullrich studiert. Er hat über Heideggers „Ereignis-Denken“ seine Dissertation verfasst. Die Heidegger-Lektüre muss prägend gewesen sein. Ullrichs Ekel vor jeder Rechthaberei scheint nämlich jenen „sorgsam angelegten Problemstraßen der zünftigen Philosophen und Geisteswissenschaftlern“ zu gelten, von denen Hannah Ahrendt in ihren Erinnerungen an Martin Heidegger sprach. Alles „Resultathafte auflösen zu wollen“, danach trachte die Leidenschaft des Denkens. Ullrichs Arbeit steht in diesem Erbe, und man müsste diesen ideosynkratischen Widerstand gegen letzte Wahrheiten doppelt unterstreichen. Wäre das nicht gleich wieder zu eindeutig. „Ruhe und Freiheit“ sucht Ullrich in der Form der Vorlesung. Nach 20-jähriger wissenschaftlicher Karriere ist dieses Buch ein souveränes Innehalten.

Eine Zwischenbilanz, die Ambivalenzen nicht einfach erlaubt, sondern wie alle starken Texte geradezu herausfordert. Der Besucher dieser Vorlesung wird die Distanz zum Autor selbst wählen müssen. Er wird näher kommen und sich kühl wieder entfernen, womöglich dann, wenn Ullrich sich von seiner schnöselhaften Seite zeigt und jedes Leiden an der Gegenwart als persönliches Pech abtut, das den Kern der Argumentation nicht zu berühren hat. Ullrich bietet sich ironischerweise selbst einer kritischen Lesart an.

Ganz besonders in der Rolle des bekennenden Opportunisten, der die Thesen eines Kunst-Vortrags vor Bankern geflissentlich den Empfindlichkeiten seiner Zuhörer anpasst und alles viel weniger marktkritisch formuliert, als er das in einem Diskussionsbeitrag zum selben Thema vor Off-Publikum tun würde. Ein fahles Licht fällt hier auf den Theoretiker, der wie ein kleiner, gehetzter Handelsreisender dasteht.

Ohne moralische Wertung

Die Ironie ist, dass ein klassischer Opportunist sich niemals in dieser Beleuchtung zeigen würde. Er würde nicht so blöd sein und auf den Wettbewerbsvorteil verzichten. Nein, seiner Anbiederung würde er, freilich in jedem Fall vergeblich, eine exklusive Aura verleihen. Nach dem Motto: Ich krieche nur für dich.

Ullrich, um das klarzustellen, benutzt den Begriff in einer älteren, vergessenen Tradition des 19. Jahrhunderts. Der Opportunist verhält sich dort der Situation angemessen. Er ist ein Gegenwartsmensch und kommt ohne moralische Wertung aus. Das macht ihn für Ullrich interessant.

Aufklärungsarbeit gelingt nämlich, so Ullrich, allein als Zeitgenossenschaft. Wer zwischen sich und dem, was er verstehen will, nicht ständig einen Abgrund wittert, der kann gelassen hin und her schauen. Er muss nicht vor lauter Erregung nach der neuesten, steilsten These japsen, sondern kann beides wahrnehmen: Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Ritardando. Das Urteil kann warten, ja die These darf sogar ausbleiben.

Anstatt traurig darüber zu sein, stimmt gerade das den Aufklärer fröhlich. Der Fundamentalismus der Bedeutung takelt ab. Platz ist für das Denken und eine Kunst des Misstrauens gegenüber dem eigenen Machtanspruch. So endet dieses Buch, wie es angefangen hat. Mit einem Wunsch. Dass die Aufklärung niemals aufhören möge.

■ Wolfgang Ullrich: „Des Geistes Gegenwart. Eine Wissenschaftspoetik“. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014, 160 Seiten, 11,90 Euro