EDITORIAL
: Stolz statt Vorurteil

Wohin das alles führt, hat niemand geahnt. Und hätten die Christdemokraten, die das Ganze vor 50 Jahren in Gang setzten, um die Folgen gewusst – vermutlich hätten sie es sich anders überlegt. Denn das Anwerbeabkommen mit der Türkei, das heute vor 50 Jahren in Kraft getreten ist, hat die Republik grundlegend verändert.

Die Türkinnen und Türken kamen, viele blieben. Und heute? Sind sie Deutschland, genau wie der Rest. Betrachtet man diese Entwicklung einmal ganz unaufgeregt, wie wir es auf den folgenden Seiten tun, kann man zu dem Schluss kommen: Die Einwanderung aus der Türkei ist eine Erfolgsgeschichte.

Natürlich gibt es Probleme. Aber verengen wir den Blick nicht auf sie, wie es die Sarrazins dieser Welt so gern tun, dann sehen wir: Das Zusammenleben zwischen „Eingeborenen“ und Zugezogenen klappt meistens ziemlich gut. Sogar besser als in vielen Nachbarländern.

Bedenkt man, wie die Politik jahrzehntelang verhinderte, dass die Einwanderer ökonomisch und gesellschaftlich aufstiegen, dass sie gleichberechtigt mitmischten in der deutschen Gesellschaft, so überrascht, wie viel Engagement und deutsch-türkisches Miteinander, wie viel ökonomischen Gründergeist und sozialen Aufstieg es gibt.

Diese sozialen Wandel sollten wir endlich registrieren: Die Anzahl der türkeistämmigen Abiturienten und der binationalen Ehen steigt, die Mittelschicht wächst, selbst die Anzahl der Einbürgerungen nimmt wieder zu. Türkeistämmige Abgeordnete sitzen in vielen Parlamenten, sie werden Grünen-Chef oder Sozialministerin in Niedersachsen. Sie haben Deutschlands Gesicht verändert: Fatih Akin steht heute für den deutschen Film, Feridun Zaimoglu für die deutsche Literatur, Mesut Özil für den deutschen Fußball. Sie zeigen, dass die Einwanderung für Deutschland ein Gewinn ist.

Dazu freilich braucht es Offenheit und Engagement, Respekt und Konfliktfähigkeit auf beiden Seiten. Dann kann aus „50 Jahren Scheinehe“, wie das postmigrantische Kreuzberger Theater Ballhaus Naunynstraße sein Herbstprogramm anlässlich des Anwerbe-Jubiläums nennt, etwas wirklich Ernstes werden. Wir setzen auf ein Happy End.

SABINE AM ORDE

■ Sabine am Orde ist stellvertretende Chefredakteurin der taz