Von der Kunst, nein zu sagen

FAHNENFLUCHT Der Dokumentarfilm „Out of Society“ von Nancy Brandt beleuchtet auf ungewöhnliche Weise das Leben zweier Deserteure

Nancy Brandt interessiert sich dafür, was das bedeutet: Fahnenflucht, desertieren

VON CAROLIN WEIDNER

„Sieh mal, was ich kann!“, das sind die ersten Worte in Brandts neuem Film „Out of Society“, der diesen Freitag im Kino Krokodil zu sehen ist, und sie stammen von Emil Richter. Was folgt, sind die Purzelbäume eines 90-jährigen Mannes. Ein Klacks für Richter, der in seinem Leben schon allerlei Kunststücke vollbracht hat. Von der Wehrmacht zu desertieren zum Beispiel. Anschließend diverse Wehrmachtsgefängnisse durchlaufen. Fliehen. Bis nach Aleksandrovac, einem kleinen serbischen Weinort. Nancy Brandt interessiert sich in „Out of Society“ dafür, was das bedeutet: Fahnenflucht, desertieren. Und schneidet hierfür die Geschichten zweier äußerst unterschiedlicher Charaktere zusammen: von Emil Richter, den Brandt 2003 dabei begleitet hat, wie er nach 56 Jahren erstmals wieder nach Aleksandrovac fährt. Und von André Shepherd, jenem mutigen Mann, der am 26. November 2008 in Deutschland Asyl beantragte, um einen weiteren Einsatz im Irak zu entgehen.

Die Form, die Nancy Brandt in „Out of Society“ gewählt hat, ist ungewöhnlich. Es gibt keine Erklärungen, nichts, was die Geschichten der beiden Männer auf formaler Ebene miteinander verbinden würde. Die zwei Teile, aus denen der Film besteht, sind inhaltlich und ästhetisch völlig verschieden. Hier das 2003er Videomaterial, auf dem Emil Richter zu sehen ist, ein Unikum, unbekümmert und mit der Aura eines Jemanden, der mit einigem Abstand auf das eigene Leben zurückblickt. Und da André Sheperd, noch immer im Asylverfahren, mittlerweile mit einer Deutschen verheiratet, nachdenklich. Sie ist es auch, die der Kamera berichtet, dass es André guttäte, zu erzählen, das sei „wie eine Therapie“ für ihn.

So schildert André von seiner Zeit im Irak, vor allem auch von den psychischen Konsequenzen, die folgten, nachdem man den Soldaten mitgeteilt habe, dass es keinerlei Massenvernichtungswaffen vor Ort gäbe. „Wenn man erfährt, dass alles Erlernte eine komplette Lüge ist, dann verliert man die Orientierung“, sagt Sheperd an einer Stelle. Er sitzt da auf einem Balkon in Süddeutschland, es gibt ein Vogelhäuschen im Hintergrund, Sonnenblumen, alles ist holzverkleidet und, wie soll man anders sagen, irgendwie urig. Shepherd kehrt in seinen Ausführungen zurück bis in die USA, als er noch ein Student gewesen ist und keine Ahnung hatte, wie er die immensen Studiengebühren jemals begleichen können würde. Er berichtet davon, wie es war, obdachlos zu sein und für Monate in einem Auto zu schlafen. Und wie es heute ist, in Deutschland, mit den Sprachkursen und der Hoffnung, endlich an einem Ort anzukommen. André Sheperd sagt, er sei sich immer als ein Außenseiter vorgekommen.

Bei Emil Richter ist das anders. Freunde aus Aleksandrovac, mindestens genauso alt, schwärmen von Richter, den „alle mochten“, der für ein paar Jahre den serbischen Namen Milan Petrovic annahm und sich damit verdingte, bei allen möglichen Leuten Holz zu hacken. Richter selbst wollte nach der Flucht aus der Festung Glatz (Schlesien) eigentlich gar nicht für längere Zeit in Aleksandrovac haltmachen, sondern weiter „nach Asien zu den Apfelsinenbäumen“. Was beide Männer miteinander verbindet, ist die große Hilfsbereitschaft anderer, ohne die der Weg des Desertierens wohl ein unmöglich gangbarer gewesen wäre. Und der innere Impuls, die eigene Integrität zu wahren, auch wenn die Folgen mindestens ungewiss sind. Sheperd berichtet lebhaft vom Abwägen, Sich-den-Kopf-heiß-Denken und der Nacht-und-Nebel-Aktion, als er seine Einheit in Katterbach (Bayern) verlässt. Er wird der erste US-Amerikaner sein, der Asyl in Deutschland beantragt, im Jahr 2010 erhält er den taz Panter Preis. Für Shepherd geht das Asylverfahren 2015 in die nächste Runde, Emil Richter verstarb 2009, ein Teil seiner Asche wurde in Aleksandrovac beigesetzt. Die Vorführung am Freitag findet im Beisein Nancy Brandts und André Shepherds statt sowie Vertretern des Friedensbibliothek Berlin und dem Military Counceling Network e. V.

■  „Out of Society“: Kino Krokodil, in Zusammenarbeit mit der Friedensbibliothek Berlin und in Anwesenheit von André Shepherd, 19. Dezember, 20 Uhr