Freunde sind die wahre Familie

BUCH Michela Murgias Erzählung „Murmelbrüder“ ist ein wunderbar schwerelos skizziertes Porträt der italienischen Provinz

Wenn man zehn Jahre alt ist, hat selbst eine Kleinstadt die Ausmaße eines ganzen Kontinents, und der unendlich erscheinende Sommer birgt zu Beginn der Ferien ein großes Versprechen von Offenheit. Den Nachhall dieser Verheißung trägt man noch bis ins Erwachsenenalter mit sich. Maurizio verbringt die Sommermonate bei seinen Großeltern in Crabas, einem sardischen Städtchen mit „neuntausend Seelen“, dessen Glanz in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts schon ein bisschen matt gescheuert ist und in dem „Bauern, Fischer und einige wenige Hirten“ zwei Drittel der Wirtschaftskraft ausmachen.

Für Maurizio, der mit den Eltern in einem kleinen Kaff lebt, ist Crabas das Paradies: Hier gibt es an den religiösen Festtagen Verkaufsstände und Fahrgeschäfte. Die Alten sitzen am Abend vor ihren Häusern auf der Straße, umringt von ihren atemlos lauschenden Kindern und Enkeln, und erzählen Schauergeschichten von armen Seelen. Natürlich, und das ist der größte Vorzug von Crabas, hat Maurizio dort seine Freunde Franco Spanu und Giulio, Spielkameraden, mit denen er Streiche ausheckt, die zuweilen für Aufsehen und wochenlang für Gesprächsstoff sorgen. Für das Einzelkind Maurizio sind die Freunde der Straße die wahren Geschwister.

„Von derselben Mutter geboren zu sein, hat noch niemals Zugehörigkeit gestiftet, nicht einmal unter Kindern“, schreibt Michela Murgia. Freunde bilden die eigentliche Familie. Murgia wurde 1972 in Cabras in der Provinz Oristano geboren und hat ihrem Geburtsort mit dieser Geschichte aus Crabas ein kleines Denkmal gesetzt. Ihre schmale Erzählung „Murmelbrüder“ ist eine Liebeserklärung an die Provinz, ein etwas verklärender, aber keineswegs beschönigender Blick auf die Kindheit, eine Feier der Freundschaft.

Murgia wurde bekannt durch den Roman „Accabadora“, der 2010 auf Deutsch erschien. Darin erzählt sie poetisch, zugleich zutiefst beunruhigend, von einem sardischen Mädchen in den fünfziger Jahren, das noch gefangen in einem archaischen Mythenkosmos aufwächst. Auch ein Inselbuch hat Murgia veröffentlicht, in dem sie sich auf verschiedenen Wegen Sardinien und seinen Legenden bis hinein in die Gegenwart nähert.

„Murmelbrüder“ ist wieder eine „Geschichte aus Sardinien“, und wiewohl sie in dieser Form und mit ihren religiösen Archaismen nur dort spielen kann, ist das flimmernde Gefühl, das geschildert wird, jedem geläufig, der sich an die eigene Kindheit zurückerinnert. Es ist ein schwerelos skizziertes Porträt einer Zeit des unschuldigen In-den-Tag-hinein-Lebens. Und einer Heimat, die durch Rituale und unverbrüchliche Beziehungen geschaffen wird. Die Sehnsucht, die diese spielerische Weltaneignung erzeugt, wird man – mit ein bisschen Glück – lebenslang nicht mehr los. Michela Murgia vermag wunderbar davon zu erzählen. ULRICH RÜDENAUER

■ Michela Murgia: „Murmelbrüder. Eine Geschichte aus Sardinien“. Aus dem Italienischen von Julika Brandestini. Wagenbach Verlag, Berlin 2014, 113 Seiten, 14,90 Euro