DIE NACHBARIN IST TOT UND DIE KATZE AUCH
: Einmal Karl Marx auf Deutsch lesen

JACINTA NANDI

Wochenendbesuch in der Heimat. Meine Stiefmama feiert. Geburtstag. Bevor wir zu meinem Papa aufs Land fahren, klopfe ich bei meiner Mama in Ilford. Ich sage zwar immer, dass ich aus London komme, aber eigentlich komme ich aus einer kleinen Stadt zwischen London und Essex. Und was für ein Glück. Mein Bruder, Jonny, der ist da.

„CINTA!“, ruft er. Wir sitzen und quatschen, meine Mama, sie hat MS, und so ein Krankenhausbett im Wohnzimmer. Wir sitzen auf dem Boden, mein Sohn Ryan guckt Fernsehen.

„Ich habe in diesem Jahr vier Jobs gehabt!“, erzählt mein Bruder stolz. Vor zwei Jahren ging er mit einem Bachelor in „Kreatives Schreiben“ von der Uni. Seine Bachelor-Arbeit hieß „Telefongespräche mit meinem transsexuellen Vater, während denen ich heimlich auf MDMA bin.“ Ich fand den Titel großartig.

„Was für Jobs?“, frage ich.

„Ich war Verkäufer in einem Elektroladen“, sagt er. „Wir haben Müll verkauft. Dann habe ich im Callcenter gearbeitet. Dann war ich Teamleiter bei einer Firma, die Krankenwagen putzt. Und jetzt mache ich voll sinnlose Büroarbeit.“

„Jane Treamore ist gestorben“, sagt meine Mama über eine alte Nachbarin. „Ach so“, sage ich. „In derselben Woche wie die Katze“, sagt meine Mama.

„Die Katze hatte Krebs, habe ich das erzählt? Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich die Katze eigentlich mehr vermisse als Jane.“

„Du hast Jane Treamore nicht so oft gesehen“, sage ich. „Die Katze war jeden Tag hier.“

„Onkel Jonny“, sagt Ryan. „Warum hast du so viele Jobs gehabt?“

„Weil ich immer gefeuert worden bin!“, sagt Jonny.

„Und warum?“

„Weil es oft so ist, dass Leute, die Chefs werden, krank im Kopf sind!“, sagt Jonny fröhlich.

„Jane war Sozialistin“, sagt meine Mama. „Ryan, bist du Sozialist?“

„Was ist ein Sozialist?“, fragt Ryan.

„Ein Sozialist will die Ressourcen der Welt mit allen Menschen teilen, so dass alle gut leben können, und nicht nur ein paar reiche Arschlöcher, die reicher und reicher werden.“

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„Ich glaube, ich bin Sozialist“, sagt er.

„Sehr gut“, sagt meine Mama, „Sehr gut, Cinta, dass du ihn sozialistisch erzogen hast.“ Ich nicke. Bald muss ich los, denke ich.

„Ich habe damals geweint“, sagt meine Mama, „als ich Teenager war und zum ersten Mal Marx gelesen habe. Karl Marx war Deutscher, Ryan. Ein kluger Mann. Ich habe aus Bewunderung geweint, dass ein Mensch so klug sein kann. Ich weinte.“

Mein Bruder lacht. Meine Mama sagt: „Du sollst Marx auf Deutsch lesen, Cint. Du hast so ein Glück, dass du Marx auf Deutsch lesen kannst.“

Seitdem ich in Deutschland wohne – seit 14 Jahren – sagt meine Mama mir, ich soll Marx auf Deutsch lesen. Plötzlich habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich das bis jetzt nicht gemacht habe. Meine Mama scheint auch nicht zu realisieren, dass ich Marx auch nicht auf Englisch gelesen habe. Irgendwann mal werde ich das machen müssen, denke ich mir. Irgendwann mal. In der Zukunft. Bevor sie stirbt.