Wenn alles Kunst geworden ist

ERZÄHLERISCHE THEATERSTUDIE Mit „Der Intendant kommt“ hat Rainer Wieczorek seine Trilogie der Künstlernovellen vervollständigt. Es ist eine sprachlich gelungene Träumerei über das vergebliche Bemühen, auf der Theaterbühne unerkannt zu bleiben

Die Novelle lässt sich als eine facettenreiche Variante auf den berühmten Satz lesen, den wir aus Becketts Regie- und Proben- arbeit kennen: „Wir müssen noch mehr zurücknehmen“

VON JOCHEN SCHIMMANG

Jetzt ist sie komplett, die Trilogie der Künstlernovellen, mit denen uns Rainer Wieczorek und der Dittrich Verlag seit 2009 beglückt haben. Nein, das ist nicht ironisch gemeint – Ironie kann ja jeder, wie ich kürzlich gelernt habe –, sondern ganz wörtlich. Wieczoreks Novellen machen nämlich glücklich.

Zur Erinnerung: Im ersten Band der Trilogie, erschienen 2009, ging es trotz des Titels „Zweite Stimme“ nicht etwa um die Musik, sondern um die Bildende Kunst, um den „Spaziergangswissenschaftler“ Skala, der die Konzeptkunst auf die Spitze treibt. Sein Freund Baumeister aber, frühpensionierter Schriftsetzer, setzt da noch einen drauf und baut ihm ein Museum, das man am Ende nicht betreten kann, ohne die Kunst zu zerstören. Das Ganze ist so wenig bemüht, weit hergeholt und theorielastig, dafür so luftig, federleicht und witzig, dass man nach der Lektüre sich selbst so leicht fühlt, als könne man fliegen. Und auch, wenn man das besser nicht ausprobiert: ist das etwa kein beglückendes Gefühl?

Ein Gefühl, das im zweiten Ton des Wieczorek-Dreiklangs anhält. Die „Tuba-Novelle“, der Titel sagt es schon, erzählt uns von der Musik. Genauer gesagt, erzählt sie uns davon, wie sie die Anstrengung des Schreibens verändert. Dass der Ich-Erzähler vom gegenüber im Spanischen Haus übenden Tubisten ausgerechnet dabei gestört wird, einen Essay über Samuel Beckett zu schreiben, ist kein Zufall. Der Geist Becketts – und seine Komik dazu! – weht durch alle drei Novellen Wieczoreks. Und so wird der ursprünglich größer angelegte Essay schließlich zur Beckett einzig angemessenen Form, zum Bruchstück, zum Fragment. Die Komik gerät in diesem zweiten Band übrigens stellenweise zur Hochkomik, und das Publikum weiß das auf Lesungen angemessen zu schätzen, ohne sich dabei banausisch vorkommen zu müssen. Dazu passt, dass Rainer Wieczorek, der Beschwörer des Flüchtigen, Randständigen, Ephemeren, im „richtigen Leben“ öfter ein durchaus kräftiges, sonores Lachen hören lässt. Dazu passt auch, dass er das Musterbeispiel eines Sesshaften abgibt, wie es im Kulturbetrieb nur noch ganz selten zu finden ist: Wieczorek ist 1956 in Darmstadt geboren und hat bis heute immer dort gelebt. Daran wird sich vermutlich auch in Zukunft nichts ändern.

Nicht vom Schreiben leben

Denn dort ist er Lehrer an einer gymnasialen Oberstufe und befolgt so Julien Gracqs weisen Rat „Bloß nicht vom Schreiben leben wollen!“. Er scheint mit seinem Beruf ganz und gar nicht unglücklich zu sein, in diesem Milieu eher die Ausnahme. Von 1995 bis 2009 war er außerdem zusammen mit Andreas Müller Programmleiter des Darmstädter Literaturhauses. Die beiden hätten diese sehr erfolgreiche Arbeit gern fortgesetzt; allein, der (damals noch) Oberbürgermeister und Kulturdezernent Walter Hoffmann wollte ihre Verträge nicht verlängern. Die Abschiedsrunde umfasste unter anderem Namen wie Daniel Kehlmann und Cees Nooteboom, mit denen das Literaturhaus 1995 auch eröffnet worden war.

Vermutlich erklären die praktischen Erfahrungen im Kulturbetrieb die überraschende Welthaltigkeit der drei Künstlernovellen, wenn auch nicht ausschließlich. Wieczoreks Weg in den Lehrerberuf ebenso wie in die Literatur war insgesamt alles andere als geradlinig. Der junge Mann hat zunächst einmal nämlich die Schule abgebrochen und eine Lehre als Musikalienhändler gemacht, die ihm beim Schreiben der „Tuba-Novelle“ gewiss ebenso zupass gekommen ist wie die Tatsache, dass er als Rock- wie als Jazzmusiker tätig war. Erst auf dem Zweiten Bildungsweg wurde Rainer Wieczorek nach dem Studium der Germanistik und der Sozialpsychologie schließlich zum Lehrer.

Bevor es so weit kam, hat er auch Theater gespielt. Davon profitiert die dritte der Künstlernovellen, „Der Intendant kommt“, die jetzt erschienen ist. Entstehungsgeschichtlich ist sie übrigens die erste und war bereits 2005 in einem Darmstädter Verlag schon einmal veröffentlicht worden. Für die Neuausgabe hat der Autor sie nur sehr behutsam überarbeitet.

Behutsamkeit, könnte man sagen, ist überhaupt ein Merkmal dieser Literatur. So, wie in „Zweite Stimme“ das Museum unzugänglich wird und in der „Tuba-Novelle“ der Essay gleichsam auf den Umfang eines Tuba-Mundstücks zusammenschrumpft, verwundert es nicht, dass hier nun der Regisseur Joachim Schoor letztlich von einem Theater ohne Publikum träumt. Die Novelle lässt sich als eine facettenreiche Variante auf den berühmten Satz lesen, den wir aus Becketts Regie- und Probenarbeit kennen: „Wir müssen noch mehr zurücknehmen.“ „Vielleicht“, überlegt der Regisseur Schoor, ein blitzgescheiter, schlitzohriger Schelm, „war der Gedanke, Theater müsse für ein Publikum gespielt werden, in dieser Ausschließlichkeit falsch, vielleicht gab es Stücke für großes Publikum, Stücke für kleines Publikum, welche für eine ausgewählte Schar von Experten – und eben solche, die so intim waren, dass sie gar kein Publikum vertrugen. Um diese Stücke ging es …“

Natürlich. Dass Schoor nicht der Mann für die großen Brüll- und Blendstücke ist, wird gleich am Anfang deutlich. Eher begreift er sich als Spezialisten für Nachtstücke, der überlegt, „ob nicht jetzt die Zeit gekommen war, Bühnenbeleuchtung generell auf ein Minimum zu reduzieren, jetzt, wo jeder Karnevalsverein mit einer Lichtkanone operierte“. Und er macht sich Gedanken über das Verhältnis von Theater und Hörspiel. Hat früher das Hörspiel sich dem Theater angenähert, warum sollte sich das Verhältnis nicht umdrehen? Und wenn Schoor schon den Scheinwerfer einsetzt, dann bevorzugt so: „Jetzt fiel Schoor wieder ein, worauf gestern der sechste Scheinwerfer gerichtet war: Auf Godot! Schoor hatte ihn hingestellt, um Godot gleichsam als Prinzip zu fokussieren …“

Es spielt dabei keine Rolle, dass es sich um einen ausgemusterten Scheinwerfer handelt, von dem der Regisseur nicht einmal sicher ist, „ob das Ding überhaupt noch funktionierte“. Immerhin hat es einer mal gewagt, das Licht auf den berühmten Unbekannten und noch nie Erschienenen zu richten, der immer versprechen lässt, dass er ganz bestimmt morgen kommt. Übrigens kommt der titelgebende Intendant erst auf der allerletzten Seite, „beschwingten Schrittes“, wie es dort heißt, aber da hat Schoor gewissermaßen die Regie längst an den geheimen Protagonisten dieser Novelle abgegeben, den Nachtportier des Theaters, der ihn irgendwann instinktiv verstanden hat und sein Werk fortführen wird. Das sei nur gegen den eventuellen Verdacht erwähnt, bei diesen Künstlernovellen handele es sich wohl um einen pseudoavantgardistischen und irgendwie auch elitären Kram. In „Zweite Stimme“ tritt der Künstler Skala das Gesetz des Handelns schließlich an den ehemaligen Schriftsetzer Baumeister ab. In der „Tuba-Novelle“ wird der Beckett-Essayist durch das klanglich recht erdverbundene Instrument zur Erdung gemahnt. Und in der Intendantennovelle ist es letztlich keiner der Studenten, mit denen Schoor probt, die seine Theaterarbeit wirklich begreifen, sondern eben der Nachtportier.

Theorie, die schon Kunst ist

Das wissen wir übrigens aus zweiter Hand, vom Theaterwissenschaftler Hans-Horst Wagner, der über Schoor forscht, ein schwieriges Unterfangen, da dessen Stücke nie aufgeführt wurden. In seinem Vorwort (selbst die Herausgeberfiktion, die in der Literatur ansonsten doch schon recht angestaubt ist, gerät bei Wieczorek ganz leicht), heißt es: „… und obwohl es noch keine Theatertheorie gibt, die selbst schon Kunst ist, weist Schoor bereits den Weg zu einer solchen Theorie.“

Hier haben wir in nuce ein wichtiges Motiv, das sich durch alle drei Bücher zieht. Schon in der zweiten Novelle ist an einer Stelle von dem Zeitpunkt die Rede, „wenn einmal alles Kunst geworden sein wird“. Diesen Zustand haben wir heute bekanntlich schon erreicht; während er aber viele Agenten des Kulturbetriebs mit tiefem Ernst erfüllt, kann Wieczorek damit spielen, auf ebenso bezaubernde wie tiefgründige Art und Weise. Ich weiß nicht, warum mir an dieser Stelle Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen einfallen, die ich vor gut dreißig Jahren das letzte Mal gelesen habe, aber irgendwie darum scheint es mir in diesen drei Novellen zu gehen.

Wer jedenfalls, um auf den Anfang zurückzukommen, für kurze Zeit einmal ganz einfach glücklich sein möchte, dem sei geraten: Wieczorek lesen!

Rainer Wieczorek: „Der Intendant kommt. Künstlernovelle“. Dittrich Verlag, Berlin 2011. 134 Seiten, 16,80 Euro