Rettung vor dem Kieslaster

Ein arbeitsloser Historiker hat in Oldenburg Reste der namensgebenden frühmittelalterlichen Burg entdeckt. Die Stadt wollte einen Parkplatz für eine Spedition darauf bauen. Aber für die Bewerbung um den Titel „Stadt der Wissenschaft“ hat die Ausgrabung plötzlich ungeahnte Bedeutung bekommen

Was gibt es schöneres für einen Historiker, als das, was er aus den Quellen herausgelesen hat, wirklich zu finden?

VON FELIX ZIMMERMANN

Martin Teller ist ein Experte. Akribisch hat er die Literatur zum Thema gelesen, alte und neue Karten abgeglichen, ist über Wiesen und Felder gestapft, hat vor allem nachgedacht und richtig gedeutet, was er sah, las und fand – bis er sich sicher war, etwas sehr Bedeutendes entdeckt zu haben. Tellers Spezialgebiet ist die oldenburgische Siedlungsgeschichte. Ein Nischenthema. Wenn da einer etwas Bedeutendes entdeckt zu haben glaubt, dann muss das noch nicht viel heißen. Aber Teller glaubte, den Heidenwall aufgespürt zu haben, eine frühmittelalterliche Ringburg am Stadtrand von Oldenburg. Lange war deren ungefährer Standort nur vermutet worden. Dass Reste erhalten sein könnten, glaubte niemand. Für Teller war es bedeutend, denn was gibt es schöneres für einen Historiker, als das, was er aus den Quellen herausgelesen hat, wirklich zu finden?

In Tellers Nische – und seit 1.000 Jahren im moorigen Grund nahe dem Flüsschen Hunte – steckte aber auch für die Stadt etwas ganz Großes: Im kommenden Jahr feiert sie das 900. Jubiläum ihrer Namensnennung in einer Urkunde von 1108. An einem Ort namens Aldenburg fand damals die regelmäßige Übergabe von 90 Aalen statt, die Graf Egilmar I. – der Begründer des oldenburgischen Grafengeschlechts – dem Kloster Iburg als Rente zu liefern hatte. Wie die Stadt zu diesem Namen kam, war bislang unklar. Die Grafenburg wurde erst 1150 fertiggestellt, war also zur Zeit der Urkunde bestenfalls im Bau und konnte kaum schon als „alt“ gelten. Der Name musste sich also auf eine ältere Burg beziehen. Weder am Ort des heutigen Schlosses noch sonst wo in der Oldenburger Innenstadt wurde sie nachgewiesen. Allein der Heidenwall kommt als Vorgängerburg, als die „alte Burg“, in Frage. Nun sah es so aus, als könne Teller der Stadt für die Namensfeier die knapp unterhalb der Grasnarbe versteckten Grundmauern präsentieren. Aber wollte die Stadt das überhaupt wissen?

Lange schien es, als würden Teller und der Heidenwall stören. Die Stadt hat auf dem Areal ein Gewerbegebiet ausgewiesen. Ikea will ein Möbelhaus bauen. Der Teil, unter dem der Heidenwall liegt, sollte an eine Spedition gehen. Für Teller begann damit der zweite Teil der Heidenwall-Arbeit. Er wusste, dass das Gelände mit Sand überspült werden würde, um es für die Nutzung als Gewerbegebiet überhaupt tragfähig zu machen. Der Heidenwall würde darunter auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Vom Entdecker des Heidenwalls wurde Teller so zum Retter, aber diese Aufgabe war für den arbeitslosen Historiker, der das alles unbezahlt und quasi als Hobby macht, fast schwieriger als der Fund selbst.

Teller schrieb Briefe und E-Mails an die Stadt und die Ratsfraktionen, er schrieb die zuständigen Ämter an – und erhielt keine Antwort. „Ich habe mir die Finger wund getippt und den Mund fusselig geredet, aber die Reaktionen waren äußerst dürftig“, sagt er. Er traf sich mit Vertretern der Stadt und dem jüngst pensionierten Bezirksarchäologen Jörg Eckert. Denen erläuterte Teller seinen Fund derart überzeugend, dass Mitte Mai endlich eine Suchgrabung vereinbart wurde. Dazu wird ein Graben als Querschnitt über das in Frage stehende Gelände gezogen, um einen ersten Einblick zu bekommen.

Offenbar war der mögliche Überrest einer frühmittelalterlichen Burg aber nicht so wichtig, denn parallel dazu tat die Stadtverwaltung alles, die Sandaufspülung möglichst schnell in die Wege zu leiten. Noch vor Beginn der Grabung, vergab der Verwaltungsausschuss der Stadt Oldenburg die Erdarbeiten für das gesamte Gelände. Würde der Heidenwall im Sand untergehen? Bezirksarchäologe Eckert sagt, Teller sei „Gott sei Dank einigen Leuten gehörig auf die Nerven gegangen“. Hätte er das nicht getan, dann wäre wohl nie gegraben worden. Die Suchgrabung brachte das, was Teller selbst nicht für möglich gehalten hätte: Gut erkennbare, ringförmig angelegte Fundamente des Heidenwalls.

Die Grabungen mussten weiter gehen, das war nun auch der Stadtverwaltung klar, die in der Spedition Schenker längst einen Käufer für das Grundstück hatte. Deshalb wurde eine Frist gesetzt: Bis zum 11. Juli dürfen die Archäologen graben, danach werden eventuelle Funde beseitigt und die Erdarbeiten beginnen. Das nennt man in der Sprache der Archäologie Notgrabung. Zwar stellte die Stadt ein außergewöhnlich großes und gut ausgerüstetes Grabungsteam zur Verfügung, um die wenige Zeit zu nutzen. Aber Teller hatte trotzdem den Eindruck, es bahne sich eine Katastrophe an. „Es wäre eine Barbarei, diesen Ort zu zerstören“, sagte er, als er neulich über die Grabungsstätte ging.

Teller, 41 Jahre alt, ist ein bescheidener Mensch, wenn er so markig redet, dann nur, wenn es wirklich angebracht ist. 2003 hat er an der Oldenburger Uni sein Magisterexamen gemacht, seitdem forscht er von zu Hause aus über Oldenburg, weil er eine Anstellung als Historiker nicht gefunden hat. Er publiziert normalerweise still auf seiner Website und sucht die Öffentlichkeit nicht. Aber im Falle des Heidenwalls musste Teller seine professionelle Zurückhaltung nun einmal fahren lassen. „Es wäre eine Katastrophe, wenn der Heidenwall nicht erhalten wird. Nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht, sondern auch für das Marketing der Stadt“, sagte Teller. Er dachte an eine Touristenattraktion, einen historischen Lernort, „ein Fenster in die Frühgeschichte der Region vor der Etablierung des Grafenhauses, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Parkplatz wichtiger ist, als ein 1.000 Jahre altes Bodendenkmal“.

Das sagte er, als die Grabungen schon weit voran geschritten waren und längst klar war, dass da tatsächlich eine Burg im morastigen Boden lag; außergewöhnlich gut erhaltene Baumstämme, zu massiven Fundamenten angeordnet, so dass sich zwei Wallringe ergeben, die das Burginnere vor Eindringlingen schützen sollten. An einer Stelle sind Reste der Brücke erhalten, die über die Hunte führte. Bei den Grabungen wurde eine Tonscherbe gefunden, die sich in die Zeit vom achten bis zehnten Jahrhundert datieren lässt. Weitere Untersuchungen der Hölzer werden genauere Erkenntnisse über die Entstehungszeit der Anlage liefern. Die zweite Hälfte der Ringburg ist unter dem angrenzenden Huntedeich sehr wahrscheinlich ebenso gut erhalten.

Die an der Ausgrabung beteiligten Archäologen nennen den Heidenwall wahlweise „Sensation“ oder „etwas ganz, ganz Seltenes“ mit Befunden, „wie wir sie sonst nicht haben“, aber da es Archäologen gewohnt sind, dass andere Interessen oft vorgehen, schienen sie sich zu fügen. Zwar hatte auch Oldenburgs Oberbürgermeister Gerd Schwandner aus dem fernen China den Fund „großartig, wenn nicht gar sensationell“ genannt, fand ihn optisch aber nicht unbedingt ansprechend und schwärmte ansonsten von dem pulsierenden Gewerbezentrum, das dort entstehen könnte. Und das war genau das Problem: Die Verhandlungen mit der Spedition Schenker waren offenbar schon so weit, dass man den Verkauf des Grundstückes nicht mehr gefährden wollte. Außerdem hieß es, man werde die mehreren hundert Baumstämme gar nicht vor dem Zerfall retten können. Vor der Zerstörung würde „die archäologische Substanz“ dokumentiert und dann beseitigt. Das klang endgültig.

Teller sagte dazu: „Es gibt doch Experten, die das erhalten können.“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Fund zerstört werden sollte. Und zwar nicht, weil es sein Fund ist, sondern weil es ihm wirklich um den historischen Ort geht. Auf dem Hintergrund des Oldenburger Namensjubiläums im kommenden Jahr erschien es ihm geradezu absurd, den Ort, auf dem der Name beruht, zwar gefunden, aber nicht erhalten zu haben.

Dann kam der 5. Juli, es waren nur noch wenige Tage bis zum Grabungsende, da erinnerte man sich bei der Stadt des kürzlich gesteckten Ziels, den Titel „Stadt der Wissenschaft“ mit 250.000 Euro Preisgeld zu gewinnen. Oberbürgermeister Schwandner, dem dieser Titel sehr wichtig ist, sagte plötzlich, man wolle das Heidenwall-Grundstück nun doch erhalten, weil „wir die historische Entdeckung wunderbar in unser Konzept zur Bewerbung als Stadt der Wissenschaft 2009 mit einbeziehen können“. Die Grabungsfläche bleibt im Besitz der Stadt, die Spedition Schenker erhält zum Ausgleich eine andere Fläche. Vielleicht hatte ein Brief des Historischen Instituts der Uni Oldenburg an Schwandner den Ausschlag gegeben. Darin wurde gefordert, dass „das gesamte Gelände der Ringburg umfassend archäologisch erforscht werden kann und dass nach Möglichkeit eine Konservierung beziehungsweise eine Rekonstruktion der Anlage erfolgt, so dass sie am authentischen Ort sichtbar bleibt“.

Vielleicht war es auch Teller, der in weiteren Briefen und einem mittlerweile den Umfang von 28 DIN A 4-Seiten umfassenden Aufsatz auf seiner Internetseite weiter für seinen Fund gekämpft hat. Am 17. Juli soll im Kulturausschuss über das weitere Vorgehen beraten werden. Dort will man auch darüber nachdenken, Martin Teller in irgendeiner Weise in die weitere Erforschung des Heidenwalls einzubinden. Oldenburg hätte dann einen hoch qualifizierten Arbeitslosen weniger.