Kollektive Suche nach Erkenntnis

SALZBURGER FESTSPIELE Wenn Goethe das eigene Scheitern kommentiert und die Oper zum Arbeitsplatz wird, gewinnt die Kunst

Während der dreitägigen Opernaufnahmen verwandelt die Musik die Teilnehmer

VON JOACHIM LANGE

Ob nun von der Festspielleitung unter Markus Hinterhäuser und Thomas Oberender so geplant oder nur dem dramaturgischen Zufall zu verdanken: Der Auftakt der Salzburger Festspiele geriet zu einem interessanten Diskurs über die subversive Macht der Kunst. Als pathetische Behauptung beim Eröffnungsredner Joachim Gauck. Methodisch in dem Faust-Marathon des Regisseurs Nicolas Stemanns. Und schließlich als Deutungsansatz in Christof Loys Version der Oper von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, „Frau ohne Schatten“, denn er stellte die Oper als therapeutisches Mittel für Probleme der Gegenwart dar.

An Gaucks staatstragender Eröffnungsrede über die Leuchtkraft der in Salzburg zelebrierten Kunst für die Freiheit im Großen und gegen die Tristesse des Alltags im Kleinen war noch das Aufregendste, dass der Ostdeutsche als Ersatz für den Schweizer Soziologen Jean Ziegler eingeladen war. Den scharfzüngigen Globalisierungs- und Kapitalismuskritiker hatte die Salzburger Landeshauptfrau wegen angeblicher Nähe zu Libyens Diktator Gaddafi wieder aus-(oder gar nicht erst richtig ein-)geladen. Dessen nicht gehaltene Rede wurde nicht nur von Sympathisanten dennoch verteilt. Ein Kernsatz schaffte es sogar bis in den „Faust II“ auf der Pernerinsel: „Gegen die strukturelle Macht des Kapitals sind Beethoven und Hofmannsthal machtlos.“ Als Teil einer entfesselten Show, zwischen all den gerade erfundenen Dollarnoten mit hineinprojiziertem Goethe-Porträt, wirkte er aber seltsam entschärft.

Ohnehin sah dieser „Faust II“ über weite Strecken mehr nach einer von Stemanns stets bejubelten Jelinek-Annäherungen als nach Goethe aus: mit einem von der Leine gelassenen Ensemble, einem amüsanten philosophischen Duett (à la Safranski und Sloterdijk) und grummelnden Anmerkungen des senilen Herrn Geheimrats über „sein“ postdramatisches Theater. Zwar blieb das skandierte „Faust II ungekürzt!“ nur ein drohendes Wortspiel, doch auch in immerhin acht Stunden passte noch lange kein ganzer Faust.

Sympathiebonus erspielen

Immerhin gelang der Auftakt mit dem ersten Teil furios, über zwei Stunden als virtuoser Mimendienst am puren Text. Die Schauspieler Sebastian Rudolph, Philipp Hochmair und Patrycia Ziolkowska benötigten dabei nicht einmal eine klare Zuschreibung von Faust, Mephisto oder Gretchen. Hier ist jeder jedermann und frau. Dem exzellenten Trio verschafft diese Sprach- und Darstellerakrobatik einen Sympathiebonus, der bis zum großen TV-Show-Finale, weit nach ein Uhr nachts, vorhält. Für Goethes „Faust II“ wird das Personal vor allem durch Barbara Nüsse, Josef Ostendorf und Birte Schnöink verstärkt. Diese immer noch recht übersichtliche, ebenfalls die Rollen wechselnde Truppe nutzt bei ihrer kollektiven Suche nach dem Erkenntnis- oder besser Infragestellungswert von Goethes Textgebirge auch so provisorische Nebenpfade, dass der Regisseur persönlich eingreift. Was ein wenig nach Scheitern als Methode aussieht.

Immerhin werden heterogene Mittel mit Lust so collagiert, dass sie für jeden etwas bieten, bis selbst zum großen, Goethes Frauenbild sympathisch denunzierenden Abschlusssong vom „Ewigweiblichen“.

Auch beim Opernauftakt der Festspiele, im Großen Festspielhaus, gab es mit der „Frau ohne Schatten“ ein Großformat. Musikalisch ist die Oper von Richard Strauss eine Herausforderung, die von Christian Thielemann, den Wiener Philharmonikern und einem exzellenten Protagonistenensemble auf einem Niveau bewältigt wurde, wie man es sich von den Festspielen wünscht. Die Interpreten begeisterten: von der Färbersfrau Evelyn Herlitzius, der Kaiserin Anne Schwanewilms, dem Kaiser Stephen Gould bis zur Amme Michaela Schuster. Es war interessant, wie konsequent der Regisseur Christof Loy die exotisch-märchenhafte Verpackung dieses Diskurses über die vertrackten Partnerprobleme von zwei Paaren umgeht und in eine detailgetreu ausgemalte Platteneinspielung genau der Oper, die gerade gespielt wird, aus dem Jahre 1955 verlegt. Johannes Leiacker hat die Wiener Sophiensäle als Ort des Geschehens nachgebaut.

In einem großformatigen Kammerspiel treffen hier nicht nur Sänger mit Biografie, sondern vor allem Menschen mit Problemen aufeinander, Paare, die ihre Kinderlosigkeit verhärtet hat. Während der dreitägigen Aufnahmen werden sie auf der Bühne durch die Macht der Musik verwandelt, bis ein Konzert mit Sängerknaben unterm Weihnachtsbaum und vor lauter Österreichflaggen das Happy End übersteigert und zugleich bricht. Nicht immer gelingt dem traditionsreichen Nobelfestival in Salzburg gleich zu Beginn eine so überzeugende Selbstlegitimierung wie mit diesen beiden Inszenierungen.