Wir sind da, wir sind laut

THEATER Schräge Vergleiche, aber mit viel Power und Witz gespielt: „Gefahrengebiete“ vom Jugendtheaterbüro aus Moabit

Nachrichtenausschnitte flimmern über die Leinwand: Es geht um Racial Profiling und um das Hamburger Gefahrengebiet, um Drohnen, zerbombte Städte und die Geflüchteten-Aktivist*innen auf dem Dach der Gerhard-Hauptmann-Schule. Krieg, Gewalt und Widerstand sind die Themen von „Gefahrengebiete“, dem Eröffnungsstück des diesjährigen Jugendtheaterfestivals Festiwalla. Dabei wird kaum ein Aspekt ausgelassen, so viel stellt schon der Video-Einstieg klar.

Schuld an allem ist Aggro Bold. Der Dealer mit den 60 Strafanzeigen, der schnell dabei ist, sein Messer zu ziehen, wird zu fünf Jahren Haft verurteilt. Während die Pflichtverteidigerin einnickt, sind alle anklagenden Finger im Raum auf Aggro gerichtet: Er ist schuld am Anstieg der Kriminalitätsstatistik, daran, dass Syrien brennt, an Nazis, dem Babystrich und der Umweltzerstörung. Später im Knast wird ihm erklärt: „Deine Gewalt, Aggro, ist nichts gegen ihre. Draußen auf der Straße nennen sie es Mord. Da oben nennen sie es effektive innere Sicherheit.“

So versucht die Produktion des Jugendtheaterbüros aus Moabit sehr disparate Themenbereiche zu verknüpfen: Im Jahr des 100-jährigen Gedenkens an den Ersten Weltkrieg ist eine theatralische Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg entstanden, die sowohl die Waffengewalt in den aktuellen Krisengebieten in den Blick nimmt als auch die strukturelle Gewalt gegen Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland.

Viele der jungen Darsteller*innen, die maßgeblich an der Entwicklung des Stücks beteiligt waren, kommen selbst aus Gegenden, in denen zurzeit Krieg herrscht: Palästinensergebiete, Syrien, Kurdistan. Hier in Deutschland haben sie alle schon Erfahrungen mit Rassismus gemacht. Jamil, 21, der neben dem Schauspielen und dem Studium auch in der dramaturgischen Abteilung des Jugendtheaterbüros arbeitet, spricht für die ganze Gruppe, wenn er sagt: „Im Jobcenter, bei der Polizei oder wo auch immer: Ich werde anders behandelt, egal was ich mache, ich bin in deren Augen anders.“

Die Inszenierung droht des Öfteren ins allzu Plakative und Klamaukige zu kippen, wird aber immer wieder von Tanzperfomances zwischen Kampfkunst und Contemporary, von selbst geschriebenen Raps und der Street Credibility der Darsteller*innen gerettet. „Hildegard Anderleine“ und Hamburger Ex-Innensenator „Donald Schrill“ bringen das Publikum mit Politsatire zum Lachen. In der zweiten Hälfte jedoch, in der Aggro Bold aus dem Gefängnis in eine Dystopie unter der Regierung der „Deutschen Alternative für Deutschland“ entlassen wird, beginnt die Darstellung zu schwächeln und die Inszenierung sich in die Länge zu ziehen. Vor allem stellt sich die Frage, wie viel Vollständigkeitsanspruch und theatralische Vermischung gleich mehrerer Großthemen guttut. Bis zum Schluss schwankt „Gefahrengebiete“ zwischen kluger Verknüpfung politischer Realitäten und einem etwas willkürlichen Brainstorming zum Über-Thema Gewalt.

Jamil geht es bei seiner Arbeit am Jugendtheaterbüro auch weniger ums Theater und ums Theaterspielen als um Selbstermächtigung: „Wir sind Jugendliche, wir sind Ausländer, wir sind Frauen, wir sind Muslime. Und wir sind da, wir sind laut, und wir nehmen uns unser Recht, alles zu sagen, was wir können.“ Die Power, mit der diese Haltung beim Publikum ankam, hatte schon Standing Ovations zum Schluss verdient.

Im Rahmen des Festiwalla werden im Haus der Kulturen der Welt bis Samstag weitere Theaterstücke, Performances und Workshops zu sehen sein. Einer der Höhepunkte des Festivals ist ein Stück, das Geflüchtete aus dem Erstaufnahmelager Motardstraße erarbeitet haben. Es trägt den Titel „Letters Home“.

LOU ZUCKER

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