Wer kann, der geht

ALLTAG Im Nordsinai gibt es eine Ausgangssperre. Das Telefonnetz ist abgeschaltet. Eine Bewohnerin erzählt

KAIRO taz | Yasmin Atta beschreibt ihr Leben im Nordsinai als permanenten Ausnahmezustand. Sie wohnt in al-Arisch, dem größten Ort im Norden der Sinai-Halbinsel, wo sie eine Wohltätigkeitsorganisation führt. Gerade ist sie in Kairo zu Besuch – eine Möglichkeit für Journalisten, etwas über das Leben dort zu erfahren, denn selber dürfen sie nicht einreisen.

„Auf jeden, der nach fünf auf die Straße geht, wird scharf geschossen“, erzählt Atta. Seit letztem Monat gilt dort eine Ausgangssperre von fünf Uhr nachmittags bis sieben Uhr morgens. Das bringe das ganze soziale Leben zum Stillstand. „Wenn eine Mutter plötzlich nachts krank wird, kann ihr Sohn nicht bei ihr vorbeischauen, selbst wenn er nur eine Straße weiter entfernt lebt“, sagt sie. Das wirtschaftliche Leben liegt völlig darnieder. Die Brücke über den Suezkanal ist gesperrt. Lkws müssen also bis zu sechs Tagen auf einer Fähre warten, bevor sie übersetzen können. Wenn sie ankommen, ist die Ware oft schlecht. Gemüse kostet in al-Arisch teilweise dreimal so viel wie in Kairo.

„Dazu kommt, dass Telefone und das gesamte Handynetzwerk abgestellt sind. Nur nach Mitternacht können wir für ein paar Stunden telefonieren. Nachts dürfen wir nicht auf die Straße, tagsüber können wir nicht miteinander sprechen“, fasst Atta zusammen. Sie schildert einen Fall, in dem die Familie nach einem vollen Tag erfahren hat, dass eine ihrer Verwandten verstorben ist, weil niemand telefonieren konnte. „Das Abschalten des Telefon ist einfach eine Kollektivstrafe“, ärgert sie sich. Militante Organisationen benutzen Satellitentelefone, um miteinander zu kommunizieren.

Atta ist sehr vorsichtig mit dem, was sie sagt. Aus anderen Quellen ist bekannt, dass es kaum eine Familie im Nordsinai gibt, in der nicht Mitglieder ohne Anklage verhaftet oder einfach von den Sicherheitskräften verschleppt wurden.

Besonders zu schaffen macht den Einwohner Nordsinais auch ein neuer Sicherheitskorridor, den die Armee in Rafah an der Grenze zum Gazastreifen errichtet, um den Waffenschmuggel durch Tunnels zu unterbinden. Ursprünglich 500 Meter breit, soll die Pufferzone nun auf einen Kilometer ausgeweitet werden. Auf dieser Fläche sprengt die Armee alle Häuser in die Luft und siedelt die Menschen um. „Bisher sind 500 Familien umgesiedelt worden. Die Entschädigung reicht nicht, um sich irgendwo anders auch nur annährend ein gleiches Haus bauen zu können“, sagt Atta. Viele der Familien aus Rafah sind nach al-Arisch gekommen und versuchen dort bei Verwandten unterzukommen. Wer die Möglichkeit hat, der geht weg. Viele haben das bereits getan, erzählt Atta. „Keiner dort weiß“, sagt sie, „wie es weitergeht, und jeder hat die Erfahrung gemacht, dass es eigentlich immer nur noch schlimmer wird.“

KARIM EL-GAWHARY