Die anderen Steine der selben Stadt

STADTENTWICKLUNG Das Staatsarchiv zeigt eine Gegenüberstellung der alten Stickelmann‘schen Stadtansichten mit aktuellen Arbeiten aus dem Sucher von Susanne Frerichs. Nostalgiker werden geschockt sein, Progressive erfreut der Reiz der Ent-Privatisierung

Von HENNING BLEYL

Ohne den alten Pharus-Stadtplan von 1909 wäre dies Projekt nicht möglich gewesen. „Ich hätte niemals alle Orte gefunden, die Stickelmann fotografierte“, sagt Susanne Frerichs. Durch die Rekonstruktion der alten Straßenverläufe konnte sie sich jedoch auf die Spuren ihres rund 100 Jahre älteren Kollegen machen – und damit eine Ausstellung im Staatsarchiv samt Fotobuch ermöglichen, die prägnante Auskünfte über Bremens Brüche und Entwicklungen gibt.

Das Staatsarchiv verfügt über 17.000 Glas- und Filmnegative aus dem Nachlass der Familie Stickelmann: Insbesondere Rudolph Stickelmann kann als der Fotograf gelten, der Bremens visuelles Gedächtnis seit Beginn des 20. Jahrhunderts bestückt hat.

Nun hat sich Frerichs keineswegs sklavisch daran gehalten, jeden Platz von exakt dem Standpunkt aus aufzunehmen, auf dem sich Stickelmann seinerzeit befand. „Manchmal war es mir wichtiger, auch den Strukturwandel mit in den Blick zu bekommen“, sagt Frerichs und illustriert diesen Ansatz am Beispiel des Stephani-Viertels: Hätte sie dort – etwa im Geeren – nur das 70er Jahre-Haus in den Fokus genommen, der den im Krieg zerstörten Baukörper ersetzt, wäre der Erkenntnisgewinn gering. Durch „einen Schritt beiseite“ – was beim Fotografieren ja eine sehr wesentliche Bewegung ist – nimmt Frerichs das neue Radio Bremen-Gebäude mit ins Bild, in dem sich wiederum die Weser Renaissance-Fassade der Architektenkammer spiegelt: eine gelungene Bündelung der Faktoren, die für die Weiterentwicklung des Quartiers wesentlich sind.

Andere Orte hingegen wären auch durch noch so aufwändige perspektivische Kontextualisierungen nicht einzuordnen. Wer ahnt schon, zum Beispiel, dass mitten auf dem breiten Verkehrsstreifen des Rembertirings eine stolze neogotische Kirche stand? Auch der Domshof offenbart, wie komplett sich die historischen Schichten mancherorts abgelöst haben. Dessen heutige Bebauung mit Banken, denen ja trotz der Verwendung diverser architektonischer Neologismen eine gewisse historische Aura anhaftet, ersetzt eine komplette Platzeinfassung durch mondäne Hotels samt vorgelagertem Linden-Karrée. Die dieser vorausgehende Säumung des Domshofs mit großbürgerlichen Wohnhäusern freilich ist heute schon eben so vergessen wie die Ära des erzbischöflichen Palais‘, das an Stelle des Neuen Rathauses stand: Selbst mit Stickelmann stochert man in Bereichen relativer Gegenwart.

Das Gegenstück zum mehrfach überschichteten Ort ist der Focke-Garten. Man kennt ihn als zwischen „verlassen“ und „verwunschen“ changierendes Park-Überbleibsel, das zwischen Eisenbahn- und Stephanibrücke ein inselhaftes – oder gar deplatziertes? – Dasein führt. Das Staatsarchiv zeigt ihn nun in Funktion: als komplett umbaute Grünfläche, erfüllt unter anderem vom geschäftigen Treiben des vor dem Krieg dort untergebrachten Focke-Museums.

Überhaupt vermittelt Stickelmann ein Bild der brummenden, pulsierenden Kaufmannsstadt: Ufer voller Schiffe und Badestellen, eine Silhouette voller Türme beziehungsweise mächtiger Konstruktionen wie der des Daches der Baumwollbörse, mit Orten intensiver Arbeit statt misslungener Appartments wie auf dem Teerhof. Und die Rokoko-Lesehalle auf dem Ansgarikirchhof erscheint natürlich um derart viele Dimensionen schöner als der heute dort stehende Rotklinkerbau, dass einem unweigerlich die von Klaus Warwas schon in den 70ern gestellte Frage in den Kopf kommt: „Wird Bremen immer hässlicher?“

Umgekehrt gefragt: Wird man nicht unweigerlich nostalgisch, wenn man sich die Zerstörungen und Veränderungen dieser Stadt so intensiv vor Augen führt? „Überhaupt nicht“, antwortet Frerichs sehr deutlich, jede Zeit habe ihre Schönheiten. Als Beleg verweist die Fotografin etwas überraschend auf den großen Appartmentbau über der Theater-Tiefgarage, dem die schlossartige Wätjen-Villa am Osterdeich weichen musste. Dort aber, betont Frerichs, leben heute wesentlich mehr Menschen und genießen den Weserblick als zu Wätjens Zeiten.

Auch die von Stickelmann 1905, also lange vor der Umgestaltung durch Roselius dokumentierte Wohnsituation in der Böttcherstraße, wirkt auf Frerichs wie ein Anti-Nostalgikum: „Da möchte ich nicht gelebt haben.“

Mit etwa 800.000 Bildern verfügt die Bildsammlung des Staatsarchivs über einen einzigartigen optischen Schatz, der von Boris Löffler sachkundig und engagiert betreut wird. Diesen durch kluge Auswahl und Gegenüberstellung immer wieder zu heben, ist eine Arbeit, auf deren Fortsetzung man sich freut.

Fotoausstellung „Zeitdokumente zweier Generationen“: Bis zum 16. September, Öffnungszeiten: Montag, Dienstag und Freitag von 9 bis 16 Uhr, Mittwoch und Donnerstag zwischen 9 und 18 Uhr Buch: „Unser Bremen mit 90 historischen und aktuellen Aufnahmen, Bucher-Verlag München